: Osteuropa - Visionen vom Elend und vom Markt
■ Über die „soziale Marktwirtschaft“ als westeuropäische Antwort auf Marx und die osteuropäische Zuwendung zur Marktwirtschaft ohne Phrase
„Soziale Martwirtschaft ist die Antwort des Kapitalismus auf Marx“, dozierte der Müller-Harmack-Schüler Prof. Bert Rürup am Freitag nachmittag in der Bremischen Bürgerschaft. „Europa - soziale Marktwirtschaft in Ost und West“ war das Thema, mit dem die Wirtschafts-Junioren des norddeutschen Hanse-Raumes anläßlich ihrer diesjährigen Konferenz in Bremen zwischen gemeinsamem Mittagessen, Riverboot-Shuffle und Stadtrundfahrt etwas Hintergründiges geboten bekommen sollten. Vier Gästen aus den Ländern des realen Sozialismus konnten die Veranstaltung den Jung -Unternehmern ankündigen, und was bietet sich als Festrede auf die Marktwirtschaft derzeit mehr an als eine Debatte über Osteuropa - in diesen Tagen, in denen die Gesellschaftssysteme des realen Sozialismus, Land für Land, in sich zusammenfallen wie Kartenhäuser.
Die Jung-Unternehmer freuen sich auf den Ostritt der Marktwirtschaft und wollten schlicht und ausschließlich Visionen hören. Der Vertreter der Rostocker Handelskammer, Manfred Sievert, wollte eigentlich nur in die gute Laune einstimmen, aber ein DDR-Bürger kann in diesen Ta
gen nicht zehn Sätze über sein Land sagen, ohne die „Angst“ anzusprechen, das „Gefühl der Ohnmacht“: In der DDR werde die Marktwirtschaft als ein „System, das auf uns herein bricht“, empfunden, und daß bundesdeutsche Unternehmen nur ihren Absatz-Bereich ausweiten wollten, „das kann ja wohl nicht sein“, meinte er. Bei dem Bemühen, diese Entwicklung für die DDR zu vermeiden, steht für den Rostocker Unternehmer-Vertreter die „Schulung der Multiplikatoren“ erst einmal an.
Marktwirtschaft als Antwort
auf Lenin
Wie wenig das die Probleme löst, erklärte unfreiwillig sofort im Anschluß an den Rostocker IHK-Mann die Marketing -Direktorin der Interflug, Dr. Petra Leuschner. Die Interflug ist auf Osteuropa spezialisiert, berichtete sie, die DDR-Urlauber zieht es nun aber in den Westen, in die traditionellen Sonnen-Zonen der der BRD-Urlauberströme. Der Konkurrenz auf fremden Terrain ist Interflug hoffnungslos unterlegen, der Kuchen ist unter den Monopolisten der Pauschal-Reisen verteilt. Was tun? „Wir hoffen, daß wir davon etwas abbekom
men“, wußte die Interflug Marketing-Direktorin.
Daß die westliche Lehrbuch-Auffassung über die Entwicklung des Kapitalismus die osteuropäische Entwicklung nicht ganz trifft, war schon aus den Sätzen des Darmstädter Ökonomie -Professors zu entnehmen gewesen. Denn während in der westlichen Ideengeschichte auf 'Marx‘ die 'soziale Marktwirtschaft‘ folgt, relativierte Rürup die Marktwirtschafts-Hoffnungen für den Osten mit dem Schlenker, soziale Marktwirtschaft habe auch „den Manchester -Kapitalismus, das Elend, Armut, Kämpfe...“ zur historischen Voraussetzung.
Der sowjetische Vertreter aus dem Moskauer Institut für Weltwirtschaft, Dr. Vladimir Korowkin, klärte die West -Marktwirtschaftler in demselben Sinne darüber auf, daß von „sozialer“ Marktwirtschaft in der SU nicht die Rede sei. Offiziell sei „sozialistische“ Marktwirtschaft der Terminus, die allerdings sei in den zwanziger Jahren (als „Neue Ökonomische Politik“) schon praktisch gescheitert und zwar „dadurch, daß sie sozialisisch war“. Eben bürokratisch. Drei Wirtschaftskonzepte der Perestroika seien offiziell für geschei
tert erklärt worden, berichtete Korowkin, und er rechnet nun mit einem Durchbruch zur Marktwirtschaft ohne Phrase. Als Ökonom müsse man verschiedene Bedenken gegen die Entscheidung für die schnelle Währungsunion haben, meinte Korowkin, aber „als Europäer“ sei er der Auffassung, daß es eine „richtige Entscheidung“ gewesen sei, denn die Währungsunion habe „die Entwicklung in Richtung Marktwirtschaft in allen osteuropäischen Ländern befördert“. Auch in der SU steht für ihn der „Sprung ins kalte Wasser“ bevor, die Freigabe der Preise und die Entflechtung der Großbetriebe sei notwendig.
Sein Landsmann von der Akademie der Volkswirtschaft der UdSSR, Prof. Anatolij Popow, hatte eine Idee davon, wie die am 11.März von der sowjetischen Regierung grundsätzlich beschlossene Martwirtschaft die „optimale Zusammenarbeit“ in Europa ermöglichen könne: Westeuropa habe die Technologie und das Marketing, die SU die Rohstoffe und die Energie -Potentiale. Bei einer „Marktwirtschaft bis zum Pazifik“ seien auch Systeme der gemeinsamen Sicherheit denkbar, er als Vertreter der
„Kriegsgeneration“ habe „Ängste“ und Sorgen angesichts des entstehenden „deutschen Riesen“.
Der Darmstädter Ökonom Prof. Rürup mochte für die Sowjetunion dabei eine noch halbwegs optimistische Prognose wagen, wenn sie sich von den Subventionierungen der Commecon -Länder freimachen könne. Auch die Mitgliedschaft eines gesamten vereinten Deutschland in der Nato werde sich Bonn „etwas kosten lassen“ müssen. Allerdings werde es nicht überall, wo Marktwirtschaft herrscht, wie in der „Puppenstube“ Bundesrepublik zugehen. Ein „steiles Gefälle“ prognostizierte er für das Europa des Jahres 2000 nicht nur nach Süden - Griechenland, Portugal, Türkei - sondern auch zu den osteupäischen Staaten hin.
Grüne Randnotizen zu revolutionären Änderungen
Bei soviel Einigkeit über die Entwicklung dessen, was sich entwickelt, war der grüne Bundesvorstands-Sprecher Ralf Fücks in die Rolle des Mahners gedrängt. Es werde nur noch von Sachzwängen geredet, bemängelte er, eine „Bankrotterklärung“ für den der „politische Gestaltungswillen“.
Die „revolutionären Veränderungen“ in Europa seien nicht mehr Gegenstand von Visionen, sondern würden von den Betroffenen mit Angst und Unsicherheit verbunden. Die Marktwirtschaft sei anerkanntermaßen das System, das die menschlichen Fähigkeiten mit einem „Höchstmaß an Effizienz“ einsetze, aber man könne doch nicht von einer neuen Gründerzeit und einem unkontrollierten Wachstum ohne Grenzen ausgehen. Schon unseren Automobil-Standard auf ganz Europa zu übertragen „hält unsere Umwelt nicht aus“, meinte Fücks.
„Kulturpessimismus“ nannte das der Arbeitgeber-Vertreter Peter Kloess. „Mehr Visionen“ forderte ein Jungunternehmer aus dem Saal. Und der sowjetische Gast Korowkin empfahl Fücks, dies in Zentralrußland den Leuten etwa im Schwarzerdegebiet zu erklären, einer durchaus fruchtbaren Agrarlandschaft, wo man heute Stunden für Eier und Kartoffeln anstehen müsse. Auf dem Gebiet der Bundesrepublik, wandte er zudem gegen die politischen Bedenken Fücks‘ ein, sei die Marktwirtschaft Ende der 40er Jahre auch nicht demokratisch beschlossen worden.
K.W.
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