L'AMOUR!

■ Mit Miss Sara Sampson vom Bayrischen Staatsschauspiel ging das Theatertreffen zu Ende

Sara erinnert an Sahara: Das Bühnenbild der Inszenierung von Lessings frühem bürgerlichen Trauerspiel „Miss Sara Samspon“ stellt eine Art Pyramide dar, vor der der Regisseur Frank Castorf „ein Reich der Spekulation“, „Grenzräume zwischem realem Raum und Kunstraum“ eröffnen will.

Vor der Pyramide sitzt Sara Sampson (Silvia Rieger) in einer leichten Bodenversenkung: Ihren ersten Worten läßt sich schon anhören, daß dies nicht Lessings Sara Sampson sein wird. Sie ist nicht das empfindsame, unschuldige, ganz ihrer Gefühlswahrheit hörige Mädchen, das zwischen der Liebe zum Vater und der zum Geliebten zerrissen wird. Ihre ersten Worte sind herausfordernd, erzählen von einem Traum, in dem ihr Liebhaber Mellefont (Herbert Fritsch) ihr das Messer zwischen die Rippen drückt. Der ist indes aufgrund seiner Schlaffheit gar nicht dazu imstande: gerade dabei, durch die Tür der Pyramide zu entwischen, ist von ihm nurmehr ein Fuß auf der Bühne zu sehen. Als Sara ihn auf die Bühne zurückzerrt, verheddert er sich auch gleich in dem Satz: „Ich verspreche Ihnen das Ende Ihrer Pein ohne das Ende Ihres Lebens“, bis rauskommt, daß er ihr das Ende ihres Lebens ohne das Ende ihrer Pein verspricht. Das ist schon lange nicht mehr Lessing, das ist freie Improvisation des heutigen Geschlechterkampfes, der im Laufe der Inszenierung in drastischer Gestik und äußerster Textreduktion ausagiert wird.

Mellefont, der bei Lessing von Triebhaftigkeit zur Tugend Bekehrte, wird unter Castorfs Führung in seiner Mannhaftigkeit systematisch zersetzt: von einem geilen Lustmolch, der seiner früheren Geliebten Maarwood (Gabriele Köstler), mit der er ein Kind namens Arabella hat, immer ans Hinterteil geht und deren Aufforderungen, zu ihr zurückzukehren und dem Kind ein Vater zu sein, er in Wichsorgien wegschleimt, bleibt zuletzt nur ein in sich selbst verdrehtes, in Röhren eingezwängtes und über die eigenen Füße stolperndes Spastikum zurück. Mit seinen Papprohrarmen sieht er mal wie eine Heuschrecke, mal wie ein auf den Rücken gefallener Käfer, mal wie ein Schupo aus. Sinnbildlich frißt er die Perlen, die Marwood aus ihrer Halskette löst, bis er sie wieder auskotzt, in die Tuba seiner Tochter hinein. Gegenüber Sara markiert er den soften Transvestiten, der ihren aus eingeschnürter Brust hervorgestoßenen Carmenseufzer „L'Amour!“ nur mit einem tuntigen Säuseln beantworten kann. Dafür windet er sich in Abwesenheit Saras später mit Marwood in einen exzessiven Sara-Twist hinein.

Marwood, die in einer riesigen Schachtel auf die Bühne geschoben wird, führt sich gleich mit einem Dolch ein: Sie schneidet sich selbst aus der Schachtel heraus, entpuppt sich als eine Carmen-Schneewittchen-Symbiose, und testet zur Erpreßung Mellefonts die Medearolle an. Nach einer Zwischenstation als Punkbraut schlüpft sie dann endgültig in schwarzglitzernde Schlangenhaut. Sara kann neben ihr nur immer mehr zu einem nassen Tropf verkommen (sie war anfangs mit Mellefont in den Swimmingpool gegangen): Sie wird von Marwood mit Niveacreme angeschmiert. Ihrer beider Verhältnis vermittelt sich mal über einen steifen Tango, von dem nur die Kopfdrehung übriggeblieben ist, und mal über den Mond von Soho: für einen rhetorischen Zweikampf wie bei Lessing haben sie keine Sprache mehr.

Arabella (Nicole Leistentritt/Angelika Rießner) ist die schnippische Göre, die immer zum Tubaüben in ihr Zimmer geschickt wird, und die dann so heftig auf dem Instrument herumbläst, daß man sie genervt wieder zu sich holt. Saras Vater, Sir William Sampson (Karlheinz Vietsch), der hinter einer transparenten Maske zu einer Art Geist oder, wie Castorf möchte, Gottvater wird, ist auch nicht mehr der große Empfindsame: weder bricht ihm beim Tod der Tochter das Herz noch nimmt er Arabella am Ende an Tochterstatt an. Das Lessingsche Zukunftspathos ersäuft in erzwungenem Rock -Gejohle: Why don't we do it on the road.

Das obligatorische Vergiftetwerden und Hinwegsterben Saras wird dank Andy Warhols Banane, Chaplins Bananentrick und jenem Beatles-Song in eine definitive Heiterkeit postmodernisiert. „Was für ein Rätsel bin ich mir selbst! Wofür soll ich mich halten“, sagt Mellefont und dreht die Finger neben der Stirn wie Propeller auf und ab. „Für das Opfer des Regisseurs“, ruft jemand aus dem Publikum, woraufhin Mellefont gleich nochmal an den Anfang des Monologs zurückgeht und die Szene im Zeitraffer wiederholt. Das trägt ihm den johlenden Beifall eines Teils der Zuschauer ein, der andere Teil hält mit Buhrufen kräftig dagegen.

Castorf hat sich mit dieser Inszenierung zum Bürgerschreck gemacht. Seine Kühnheit im Umgang mit der Klassik, seine souveräne Eröffnung eines Assoziationsspielraumes, seine Suche nach neuen schauspielerischen Ausdrucksformen, sein Witz und seine von Eduard Hopper inspirierten Bildkompositionen schaffen Freiraum im Kopf. Aufgrund des zunehmenden Reibungsverlustes mit dem Text und den überhand nehmenden Gags bleibt jedoch am Schluß der Eindruck, daß man einer sehr zeitgemäßen Effekthascherei aufgesessen ist.

Michaela Ott