: Kitas: „Neue Prioritäten“
■ Interview mit Heide Rienits (SPD West) über Kindertagesstätten (Kitas) und über das Kita-Gesetz: „Mehr als die abwesende Mutter zu ersetzen“
West-Berlin. Nach der Anhörung der Senatsjugendverwaltung und der SPD-Fraktion West wird der Kita-Gesetzentwurf überarbeitet. Ostberliner Experten und Politiker sollen zu dem Entwurf auch noch gehört werden. Dann wandert das Gesetz in die zuständigen Ausschüsse und wird möglicherweise noch vor der Sommerpause vom Westberliner Abgeordnetenhaus verabschiedet. Was das Gesetz bewirken soll, welche Aufgaben Kitas erfüllen sollen und warum sie dringend verbessert werden müssen, fragte die 'taz‘ Heide Rienits. Die 48jährige ist Mitglied im Fachausschuß für Jugendpolitik der SPD West und hat maßgeblich am Thesenpapier zum Gesetz mitgearbeitet. In Kreuzberg arbeitet sie seit 15 Jahren als Kita -Beraterin.
taz: Frau Rienits, was soll ein Kita-Gesetz?
Heide Rienits: Im Kita-Streik haben dienst- und arbeitsrechtliche sowie haushaltspolitische Argumente im Vordergrund gestanden, die eher mit dem Jugendhilferecht verbundenen pädagogischen Aspekte kamen zu kurz. Wir wollen erreichen, daß Kinder- und Jugendpolitik wieder eine größere Rolle spielen. In den 80er Jahren, unter einem CDU/FDP -Senat, wurde versucht, die Standards in den Kitas zurückzuschrauben. Ein Kita-Gesetz wäre in dieser Zeit nützlich gewesen.
Nun trauen weder die Gewerkschaften noch die ErzieherInnen einem Kita-Gesetz. Sie sagen, auch ein Gesetz kann jederzeit geändert und zurückgeschraubt werden.
Daß Richtwerte nur noch schwer zu ändern wären, auch im Sinne von Verbesserungen, wenn sie erst einmal in einem Gesetz festgeschrieben werden, war bei der Anhörung sogar ein Argument gegen das geplante Kita-Gesetz. Aber natürlich haben die Gewerkschafter und ErzieherInnen recht: alles ist veränderbar. Auch Tarifverträge, die sind kündbar. Aber das Wichtige ist doch: alles, was über ein Gesetz geändert werden muß, erfährt öffentliche Aufmerksamkeit. In der Kita-Entwicklungsplanung darf es allerdings nicht nur um die genügende Anzahl von Kita-Plätzen gehen, sondern muß auch für qualitative Verbesserung gesorgt werden.
Wäre es nicht sinnvoller, wenn sich wieder Eltern um ihre Kinder kümmern?
In der Bundesrepublik gilt bis heute die Norm, daß die Familie die Kinder erziehen sollte, und ihr nur in der Not durch Krippen, Horte und Ganztagskindergärten geholfen wird. Doch das berücksichtigt nicht, daß sich die Gesellschaft so weitgehend verändert hat, daß Familien heute dem Erziehungsanspruch der Kinder nicht mehr gerecht werden können und wollen. Gleichberechtigung ist als wichtiges politisches Ziel allgemein anerkannt. Frauen wollen am Erwerbsleben und am politischen Leben teilnehmen.
Es gibt immer mehr Ein-Kind-Familien, so daß Kinder keine Geschwister mehr haben. Da ist auch die Verkehrsentwicklung: Kinder können nicht mehr gefahrlos draußen spielen und ihre Umwelt erobern, allein keine Abenteuer mehr erleben. Sie brauchen also für sie geschaffene Räume, in denen sie unter sich sein und kindgerechte Erfahrungen machen können. Das sind zwei Aspekte, die zeigen, daß heutzutage eine Kita mehr leisten muß, als nur die abwesende Mutter zu ersetzen.
Wie soll eine Kita Baulücken und verwilderte Grundstücke ersetzen?
Es muß innerhalb einer Kita genug Platz sein, damit Kinder zum Beispiel bauen können, es müssen nach Möglichkeit Gärten da sein, wo Kinder auch mal mit Bäumen, Büschen, Blumen und mit Sand und Wasser umgehen können. Von der Kita aus erschließen sich die Kinder mit ihren ErzieherInnen auch die weitere Umgebung. Heute brauchen Kinder jemanden, der sie in den Grunewald bringt.
Was Sie erzählen hört sich gut an. Nur: Es kostet Geld. Wie teuer wäre die Kita ihrer Träume?
Wenn wir am 1. Juli bei 1,5 ErzieherInnen pro Gruppe ankommen, wir aber zu zwei ErzieherInnen pro Gruppe hinkommen wollen, dann hätten wir eine Erhöhung der Personalkosten um ein Viertel.
Wieviel Erzieherinnen sollte eine Kita in einem sozial schwachen Bezirk auf 15 Kinder bekommen? Drei oder vielleicht vier?
Ich halte mich mal an das, was wir vorgeschlagen haben. Wir haben gesagt, daß es in sozial belasteten Kitas einen Zuschlag geben muß - für besonders lange Öffnungszeiten, für ausländische Kinder, für Kinder sozial belasteter Familien, zum Beispiel der Dringlichkeitsstufe null oder eins. In so einer Kita könnte man bei zwei ErzieherInnen pro Gruppe ankommen. Man muß realistisch bleiben.
Der Senat richtet am 1. Juli 248 Stellen ein, die Koalition wird voraussichtlich das Kita-Gesetz verabschieden. Wie soll es danach mit Verbesserungen weitergehen?
Wir denken, daß in der Öffentlichkeit, in den Medien und auch innerhalb der SPD eine breite Diskussion über Kinder und Jugendpolitik nötig ist. Denn unsere langfristigen Forderungen sind nur zu realisieren, wenn neue politische Prioritäten gesetzt werden. Wegen der finanziellen Abhängigkeiten darf der Blick nicht auf Berlin beschränkt bleiben. Wir müssen die künftige Entwicklung in Gesamtberlin oder im Land Brandenburg berücksichtigen. Wir müssen auch beobachten, wie sich im Bundesgebiet nach der Verabschiedung des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) die öffentliche Erziehung entwickelt.
Wenn es kein Geld geben wird, wenn sich unsere Gesellschaft nicht um ihre Kinder kümmern will, was passiert dann?
Heute haben Familien vielfältige Probleme. Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch von Kindern sind nur ein Ausdruck davon. Viele Familien können nicht mehr immer allen Bedürfnissen der Kinder gerecht werden. In sozial besonders belasteten Bezirken haben wir eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, und wir wissen, daß der Grund für die Sucht nach Alkohol und Drogen in mißglückten Kinderjahren liegt. Eine Gesellschaft, die ihren Kindern keine fördernde Umwelt bietet, hat später Jugendliche und Erwachsene, die sich dieser Gesellschaft verweigern und zum Beispiel durch Bandenbildung und Gewaltbereitschaft zum Problem werden.
Noch mal zum Tarifvertrag. Haben Sie was dagegen, wenn die jetzige Situation in den Kitas tariflich festgeschrieben wird?
Ich denke, daß neben dem Kita-Gesetz viele andere Schritte kinder- und Kita-politisch notwendig sind. Das Kita-Gesetz schließt einen Tarifvertrag nicht aus. Da müssen die Vertragspartner, die Gewerkschaften und der Senat erneut miteinander reden.
Da gibt es ja nun das Posturteil.
Das werden sicher beide Seiten auswerten und mitberücksichtigen müssen. Ich hoffe, daß sie zu einer gemeinsamen Lösung kommen - der ErzieherInnen-Beruf muß wieder attraktiv werden.
Mit Heide Rienits sprach Dirk Wildt
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