Schlechte Aussichten für den DGB

Beim Hamburger Kongreß wurden die Weichen in die Zukunft nicht gestellt  ■ K O M M E N T A R

Es steht nicht gut um den Deutschen Gewerkschaftsbund. Der bisherige Verlauf des Hamburger Kongresses bestätigt die Prognosen jener, die schon immer den drohenden Niedergang der Gewerkschaften beschworen haben und bisher - zumindest in der Bundesrepublik - von der Wirklichkeit überraschend deutlich widerlegt worden waren. Nun scheint es, bekommen sie doch noch recht. Denn so erstarrt, so perspektivlos hat sich der DGB schon lange nicht mehr präsentiert - und das in einer Zeit, in der die Menschen nicht nur in der DDR mehr denn je auf starke, moderne, handlungsfähige Gewerkschaften angewiesen sind.

Der DGB hat sich in einer Wahlprozedur, die nach allen Regeln des bürokratischen Zentralismus durchgezogen wurde, einen neuen Vorsitzenden gegeben, der nach seinem ganzen Herkommen, nach seinem persönlichen und politischen Profil gewerkschaftliche Vergangenheit verkörpert. Die Zukunfsdiskussion, die vor zwei Jahren vor allem in der IG Metall, aber auch in der ÖTV und anderen großen Mitgliedsgewerkschaften geführt wurde, ist an diesem Vorsitzenden offensichtlich spurlos vorbeigegangen. Jedenfalls war davon in seiner mehr als einstündigen Grundsatzrede nichts zu hören: Kein Wort, jedenfalls kein präzises, zur Bewältigung des industriellen Strukturwandels, kein Wort, jedenfalls kein deutliches, in Richtung auf eine Öffnung zur Ökologiebewegung, kein klares Signal an jene neuen, qualifizierten Beschäftigtengruppen, auf die es den Gewerkschaften doch angeblich so sehr ankommt. Wer gehofft hatte, mit einem neuen Vorsitzenden werde der DGB auch sein Verhältnis zu den neuen sozialen Bewegungen revidieren, sich endlich zur modernen, differenzierten, multikulturellen Gesellschaft hin öffnen, wird wohl weiter warten müssen.

Jeder weiterdenkende Gewerkschafter und jede informierte Gewerkschaftsfrau weiß inzwischen, daß das Gewicht des gewerkschaftlichen Dachverbandes gegenüber den auf ihre Branche beschränkten Einzelgewerkschaften gestärkt werden müßte, wenn die Gewerkschaftsbewegung insgesamt nicht an den Rand der sozialen Auseinandersetzungen gedrückt werden soll. Aber das Gegenteil bahnt sich an: Der DGB wird mit einer geschwächten Führungsstruktur aus diesem Kongreß hervorgehen. Dies wird zu einem relativen Bedeutungszuwachs für die Einzelgewerkschaften führen, der auch noch dadurch verstärkt wird, daß sich der deutsch-deutsche Vereinigungsprozeß der Gewerkschaften (notwendigerweise) ausschließlich über die Einzelgewerkschaften vollzieht.

Martin Kempe