: Kinderheime - weder Kaserne noch Ausleihstation
Kinderentzug für überforderte Eltern ist nicht die Lösung / Netz von Sozialarbeitern, Beratungsstellen und Therapieplätzen fehlt / Vereinsamung und mangelnder Spielraum verkrüppeln Kinderpsyche / Keine administrative Entscheidung über Adoptionen mehr ■ Von Petra Markstein
Berlin (taz) - Susanne (Name geändert) ist neun Jahre alt und lebt in einem Ostberliner Kinderheim. Ihre Mutter nahm sich das Leben. Ihr Vater suchte sich eine neue Frau. Doch da das Kind seit dem Tod ihrer leiblichen Mutter sehr verschlossen war, schlug die neue „Mutter“ das Kind und der Vater sah sich vor die Entscheidung gestellt, Tochter oder Frau. Er entschied sich für seine neue Frau und Susanne kam in ein Heim. Dort suchte man für sie eine Adoptivmutter. Doch auch diese neue Mutter hatte sich eine Adoption offenbar einfacher gedacht und brach den Kontakt noch in der Probezeit wieder ab. Susanne blieb tief enttäuscht zurück, wollte sich mit neun Jahren das Leben nehmen.
Vernachlässigte Kinder und hilfsbedürftige Eltern
Auch in der DDR sind Kinder nur zu einem ganz unbedeutenden Teil in einem Kinderheim, weil sie keine Eltern mehr haben. Die meisten haben Eltern, die jedoch die Erziehung in groben Maße vernachläßigt oder ihre Kinder mißhandelt haben. In solch einem Fall entzieht der Staat den Eltern ihre Kinder und weist sie über die Jugendfürsorge in ein Heim ein. Daß Eltern ihre Kinder aus puren Egoismus los sein wollen kommt ebenfalls vor. Das beweisen nun auch die Fälle, wo Eltern bei der Flucht über die Grenze ihre Kinder einfach in der DDR zurückließen.
Der Heimeinweisungsbeschluß für ein Kind ist, wenn die Gründe dafür in einem Fehlverhalten der Eltern liegt, immer mit Auflagen für diese verbunden. Nach einem halben Jahr tagt der Jugendhilfeausschuß, der die Erfüllung der Auflagen kontrolliert und dann über die weitere Perspektive des Kindes entscheidet. Eine wichtige Rolle übernehmen dabei die Fürsorger. Ein Kind kann nur dann zur Adoption gelangen, wenn die Eltern hierzu ihre Zustimmung geben. Das Kind kann wiederum nur dann zu seinen Eltern zurück, wenn diese die Auflagen erfüllen. Um den Eltern zu helfen, ihr Leben besser in den Griff zu bekommen und somit ausreichenden Raum für die Entwicklung ihrer Kinder zu schaffen, wäre ein Netz von Sozialarbeitern, Beratungsstellen und Therapieplätzen nötig.
Teufelskreis für die Eltern
Der Staat macht es sich jedoch einfacher und versucht seine überforderten, trinksüchtigen oder unwilligen Eltern über den Entzug der Kinder zu erziehen. Das ist ein Teufelskreis: die Eltern können sich aus eigener Kraft nicht ändern, und die Zahl der Fürsorger ist zu gering, als daß sie dieser Aufgabe in ausreichendem Maß nachkommen könnten. Ein Gerichtsbeschluß der auf Grundlage von bewiesener Kindesmißhandlung oder Vernachlässigung die Adoption eines Kindes gegen den Willen der Eltern durchsetzt, kommt so gut wie kaum zur Anwendung. Denn zuerst würde gefragt, wie den Eltern geholfen wurde, ihr Verhalten zu ändern. Statt dessen zieht sich der Prozeß oft über Jahre hin.
Mehr Spielraum für
Kinder und Erzieher
Durch die Vereinsamung im Heim, das Fehlen einer Bezugsperson und den Mangel an individuellem Spielraum überhaupt verändern die Kinder ihre Persönlichkeitsstruktur so sehr, daß sie nach einer entsprechenden Dauer ohnehin nicht mehr problemlos an Adoptiveltern vermittelbar sind.
Viel Raum für Individualität bieten die DDR-Kinderheime nicht. Sie sind dem Ministerium für Volksbildung unterstellt und unterlagen somit der administrativen Fuchtel einer Margot Honecker. Es wurden Häuser gebaut, die von den Heimerziehern als geradezu kinderfeindlich bezeichnet werden und mit ihren langen kalten Fluren und der für Beton typischen Hellhörigkeit eher an Kasernen erinnern. Die Gruppenstärke lag vor der Wende bei rund fünfzehn Kindern, für die in der Regel drei Erzieher sorgten. Freiraum war bei diesem Verhältnis kaum möglich. Von den schulischen Hausaufgaben bis zu Strafen wurde und wird alles „kollektiv“ erledigt. So wundert es nicht, wenn ein Achtjähriger einmal verkündete, daß er keine Kinder mehr sehen könne.
Seit der Wende pochen nun viele Eltern verstärkt auf ihre Recht und fordern ihre kinder zurück. Die Gruppenstärke hat sich deswegen inzwischen auf rund zehn Kinder verringert. Auch die Mitarbeiter in den Heimen diskutieren notwendige Veränderungen. Kleinere Gruppen will man in Zukunft anstreben oder sogar familienähnliche Strukturen - ähnlich den betreuten Jugendwohngemeinschaften im Westen - schaffen, in denen Kinder unterschiedlichen Alters und auch Geschwister zusammenleben. Die Erzieher fordern vor allem auch eine wesentlich verbesserte Berufsausbildung für sich selbst, bei der viel mehr Wert auf Psychologie und Soziologie gelegt werden müsse. Statt administrativer Entscheidung von unkompetenten Leuten aus dem Schulrat, wollen sie in Zukunft viel mehr eigenen Entscheidungspielraum haben. Zukünftig muß es zum Beispiel Sache der Erzieher und ihrer Kinder werden, wann und mit welchen neuen Eltern eine Adoption erfolgt. Die Heime sollen weder Kasernen noch Ausleihstation für Kinder sein.
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