: Mainstream war Protest
■ Mit dem Jazz-Experten der Sowjetunion, Wladimir Feiertag, sprach Christine Schrenk
Wladimir Feiertag wurde 1931 in Leningrad geboren. Er ist Musikwissenschaftler, Jazztheoretiker und Organisator der Leningrader Jazztage, schrieb mehrere Bücher zur Geschichte des sowjetischen Jazz und Porträts sowjetischer Jazzmusiker. Derzeit arbeitet er an einer Jazzenzyklopädie, die auch in deutscher Sprache erscheinen soll. Das Gespräch wurde während des 12. Internationalen Jazzfestivals in Münster geführt.
Herr Feiertag, welches sind für Sie die auffälligsten, und welches sind die wichtigsten Veränderungen, die der sowjetische Jazz durch den politischen und den sozialen Wandel in Osteuropa erfahren hat?
Unserer Jazzkunst fehlten immer die Kontakte. Jetzt ist der Austausch möglich geworden, unsere Jazzer können im Ausland auftreten, Jazzer aus der ganzen Welt gastieren auf sowjetischen Bühnen. Das ist die wichtigste Veränderung, die vor allem unsere Musiker betrifft. Jazz war bislang das Stiefkind unseres Kulturbetriebes. Unsere Opernkunst war bekannt, unsere Sänger und Dirigenten tourten im Westen, die Folklore war dort beliebt usw. Nur vom sowjetischen Jazz nahm man an, daß er sich schlecht verkaufen ließe. Wer Mainstream spielte, schnitt im Vergleich mit den Amerikanern schlechter ab, und neue Formen wurden oft als wertlose Experimente disqualifiziert.
Ich denke, daß Jazz zum Stiefkind wurde, weil er ein Kind der privaten Initiative ist - der Aktion und Kommunikation von einzelnen. Das machte ihn verdächtig.
Die zweite wichtige Entwicklung betrifft die Funktionalisierung der Musik. Der politische Gehalt tritt nun zurück, und die rein musikalischen Konzepte treten in den Vordergrund. Das war einmal anders. Besonders in der Stagnationsperiode nutzten die Künstler die Möglichkeiten der Musik, um Dinge auszudrücken, über die man sonst nicht öffentlich sprechen durfte.
Existierte diese Protesthaltung ausschließlich in der avantgardistischen Bewegung?
Nein, nicht ausschließlich. Jazzer, die vor 20 Jahren Mainstream spielten, d.h. Musik amerikanischer Provenienz, artikulierten damit auch ihren Protest - einen Protest gegen latenten Informationsmangel.
Das Spielen von Mainstream galt als Angriff auf das System?
Als ein kleiner Angriff, ja. Eine Mücke sticht einen Elefanten. Es war eine einfache Botschaft, die lautete: Sie wollen sie uns nicht geben, diese amerikanische, diese „schwarze Musik“ Sie wollen sie uns nicht geben, aber wir kennen sie.
Allgemein wurde jedes Ausbrechen aus traditionellen musikalischen Strukturen, zum Beispiel die Atonalität, als Rebellion gewertet. Es war eine ganz schlichte, leicht nachvollziehbare Projektion: Wer musikalische Schablonen nicht respektiert, der will auch das System, die politische Erstarrung, nicht akzeptieren. Auch wenn er - realiter dazu gezwungen ist.
Die Geschichte des sowjetischen Jazz ist geprägt von einem mehrfachen Wechsel von Repression und Liberalisierung. Den massivsten Verfolgungen von seiten des Staates waren die Jazzer wohl während der Stalinzeit ausgesetzt?
Es ist sicher richtig, nicht von einer kontinuierlichen Entwicklung auszugehen. Und richtig ist auch, anzunehmen, daß unsere Jazzer es unter Stalin schwerer hatten als jemals zuvor oder danach. Aber ich würde nicht von einer spezifischen Verfolgung des Jazz sprechen. Es war eine Zeit der Aggression, des Verfolgens von ganz unterschiedlichen Menschen. Wir haben auch im Jazz Opfer zu beklagen, doch meiner Meinung nach litt der Jazz weniger als alle anderen Künste. Er war kein so konkreter Feind für Stalin wie etwa die Literatur oder das Theater, die unter der Doktrin: 'Dies ist unsere gute Kunst und jenes die schlechte, wesensfremde!‘ viel mehr zu leiden hatten.
Der Jazz, nicht verboten aber „unerwünscht“, wurde in dieser Zeit gar nicht erst als Kunst anerkannt. Er wurde, wenn überhaupt, als Tanzmusik akzeptiert.
In einem Aufsatz von Gorki, den die Machthaber immer wieder zitieren ließen, heißt es, Jazz sei dekadent und konterrevolutionär, typisch bürgerlich - und letztlich nichts anderes als ein Zeichen „ungezügelter Sexualität“.
Das war zu einer Zeit, als es ausreichte, eine Schwester in Amerika zu haben, um sich verdächtig zu machen.
...es wurde auch von „verkommenen Negern“ gesprochen.
Gorki war einer unserer wichtigsten Dichter, er wurde zum Klassiker. Vielleicht war er sogar genial, auf anderen Gebieten. Was die Musik angeht, war er ein Dilettant. Er hatte keine Ahnung. Er haßte alles Amerikanische. (Und war doch selber Rassist, jaja. d.S.)
...und machte nicht mal einen Unterschied zwischen Adaptionen amerikanischer Musik, die sich bei den meisten Gruppen ja abwechselten?
Nein, und es war sehr schlimm, daß er so oft zitiert wurde. Er hat der sowjetischen Musik damit einen Bärendienst erwiesen.
Es gibt noch ein Paradoxon in dieser Geschichte, oder wenigstens ein scheinbares Paradoxon. 1937 wurde ein „Staatliches Jazzorchester“ verordnet. Welche Motivation steckte dahinter?
Das Staatliche Jazzorchester sollte zeigen, wie man guten sowjetischen Jazz, „Tanzmusik“ zu spielen hat. Es hatte ein Muster zu schaffen. Man muß traditionell spielen, so hieß es, gute Melodien haben, und gute sowjetische Komponisten müssen das arrangieren. Das war quasi ein Befehl. Wer sich daran hielt, hatte auch nichts zu befürchten.
Wie kam es zum Ende dieser Formation?
Das war 1941. Das Orchester wurde, wie viele andere, zu den Soldaten an die Front geschickt. Jene Division, der das Orchester zur Unterhaltung aufspielen sollte, wurde von den Nazi-Soldaten eingekesselt. Einige wenige Musiker konnten sich aus dem Kessel retten, doch weil sie vor den Nazis fliehen konnten, galten sie als „potentielle Agenten“ und wurden in stalinistische Lager verschleppt und interniert. Den Rest kann man bei Solschenizyn nachlesen.
Wie ging es weiter nach dem Krieg? 1948 soll in Talin das erste Jazzfestival der Welt veranstaltet worden sein...
Nun, es war kein richtiges Festival, es war ein Zusammentreffen zweier estnischer Formationen. Das ist nur nachträglich etwas größer gemacht worden, als es eigentlich war. Die ersten richtigen Jazzfestivals in der UdSSR würde ich auf Anfang der sechziger Jahre datieren.
Zuvor war es noch recht schwierig, öffentlich Jazz zu machen. Jazzmusiker mußten in Unterhaltungsorchestern spielen. Das war Anfang der fünfziger Jahre der einzige Weg, Geld zu verdienen und von Musik zu leben. Sie spielten dann abends in irgendwelchen Restaurants. Der erste Set am Abend war ein Jazzset, den spielten sie, wann immer es möglich war und wenn noch nicht so viel Publikum da war, für sich und einige Eingeweihte. Das ist die erste Erfahrung, die meine Generation mit dem Jazz machte. Wir hörten auch Platten, wenn wir welche bekommen konnten. Wir hörten die „Stimme Amerikas“, die großen amerikanischen Big Bands. Auch bei uns existierten bereits Big Bands, aber die durften nur wenig instrumentale Musik spielen.
Das änderte sich erst mit dem Beginn der Chruschtschow-Ära, der „Tauwetter„-Periode. Mit der ersten „Öffnung“ wurde alles leichter. Dann veränderte es sich wieder. Es folgte die Zeit der Stagnation. Jazz war zwar nicht offiziell verboten, aber erneut „nicht erwünscht“.
Wie veränderten sich die Existenzbedingungen der Jazzer?
Die Jazzer gerieten unter ökonomischen Druck. Was bei Stalin ideologisch „falsch“ war, galt nun als ökonomisch falsch. Wieder wurde Jazz nicht als Kunst akzeptiert, jegliche staatliche Unterstützung wurde verweigert. Wer als Jazzmusiker arbeiten wollte, mußte beweisen, daß er davon leben konnte. Konnte er das nicht, so wurde ihm vorgehalten, er mache schlechte Unterhaltungsmusik und müßte erstmal besser werden. Die Jazzer hatten keine Möglichkeit, für sich zu werben, sie hatten keine Radiosendungen, keine Schallplattenaufnahmen, wenn der Staat es nicht wollte, und auch keine öffentliche Bühne. In den sechziger Jahren hatten wir die Möglichkeit, über Komsomol Festivals zu organisieren. Dort haben dann viele Gruppen gespielt, für die es sonst keine „Verwendung“ gab. Es war die Aufgabe von Komsomol, sich um die Jugendkultur zu kümmern, und für uns bedeuteten diese Verpflichtungen einen gewissen Freiraum.
Der Jazz wanderte in den Untergrund?
Ja. Und da blieb er sehr lange Zeit. Wenn auch der Begriff Untergrund hier etwas anderes meinte als der „Underground“ in den USA oder in Großbritannien, wo die Motivation, bei den krassen sozialen Unterschieden, eine ganz andere war. Bei uns waren diese Unterschiede nie so deutlich, laut Doktrin ja gar nicht vorhanden - wenn es auch bis in die späten Siebziger dauerte, bis Jazzerinnen und Jazzer erstmals öffentlich Honorare für ihre Festivalarbeit forderten. Es konnte ja jeder Arbeit haben, mußte sogar, nur eben nicht freie, also selbstorganisierte Arbeit. Die war verboten. So wie es verboten war, die Gruppe, mit der man sich angemeldet hatte, zu wechseln. Freies Formieren, das Arbeiten mit immer neuen Gruppen, im Jazz eine Selbstverständlichkeit, gab es nicht. Ohne das Kulturministerium, ohne staatliche Agenturen und jenseits von deren Vorstellungen von qualitativ hochwertiger Kunst lief nichts.
Der sowjetische Untergrund war über Jahrzehnte hinweg in privaten Wohnungen anzutreffen. Dort hatte die disqualifizierte Kunst ihren Platz, und hier war auch Raum genug für die freie Improvisation, für neue Formen des Jazz, in freien Formationen. Irgendjemand gab einen Tip, und dann fand man sich mit fünfzig fremden Leuten in einem fremden Wohnzimmer wieder, um wirklich neuen sowjetischen Jazz zu erleben. Das gibt es nun nicht mehr.
Fehlt jetzt der Reiz des Konspirativen?
Zuweilen schon. Aber das betrifft nicht nur unsere Musik, das betrifft die Rockmusik mindestens ebenso sehr. Das passiert jeder unterdrückten Kunst, die plötzlich öffentlich wird.
Welche musikalischen Folgen zeitigt das, außer der schon von Ihnen angesprochenen, abnehmenden Funktionalisierung?
Es ist sehr schwer, jetzt schon von musikalischen Tendenzen zu sprechen. Im Moment geht alles, ob Avantgarde oder Mainstream. Die Leute probieren alles mögliche, es wird viel experimentiert, mit alten und mit neuen Formen, vom Bebop bis zum Free Jazz. Manche greifen alte, volksmusikalische Traditionen auf, um sie neu zu verarbeiten, andere widmen sich der frühen polyphonen Musik, viele ändern ihr musikalisches Konzept nach nur wenigen Auftritten. Auffällig ist, daß die Formationen immer kleiner werden. Offenbar arbeiten viele Jazzer jetzt lieber im Quartett oder im Duo. Das ist vielleicht als Reaktion auf die alten offiziellen Tanzmusikorchester zu interpretieren.
Wie reagiert das sowjetische Publikum auf die neue Bühnenpolitik?
Es ist großes Interesse da für alles Neue. Wichtig ist auch, daß der Jazz jetzt in den Medien, im Hörfunk und im Fernsehen präsent ist. Wir versuchen, das Interesse mit unserer Jazzföderation zu unterstützen - einen Zusammenschluß von Musikwissenschaftlern, Kritikern und Musikern, die vor allem bei der Organisation von Festivals behilflich sind.
Haben sich Interesse und Rezeption verändert, seit viele Musiker aus dem Westen bei Ihnen auftreten?
Es gibt ohne Zweifel eine starke Westorientierung beim sowjetischen Publikum. Ich denke, die ist unvermeidlich. Das ist der Preis für die jahrzehntelange Isolation.
Denken Sie, daß es zu einer „Verwestlichung“ des sowjetischen Jazz kommen wird? Und wie stark wird der sowjetische Jazz den amerikanischen oder westeuropäischen Jazz beeinflussen?
Ich mag gar nicht so gern von „Einfluß“ sprechen. Bestimmt werden sich einige sowjetische Jazzer auch daran orientieren, was sie nun „live“ auf der Bühne sehen und hören können. Und es gibt auch einige Jazzer aus dem Westen, die sich für unsere musikalischen Ursprünge interessieren und Elemente daraus verarbeiten. Aber ich würde daraus keine Regel ableiten. Es hat schon immer Leute gegeben, denen es ausreichte, etwas möglichst gut nachzuahmen, und andere, für die die eigene freie Improvisation die eigentliche Kunst darstellt. Elektronikartisten, um ein Beispiel zu nennen, wird es bei uns in näherer Zukunft sicher nicht sehr viele geben. Dafür fehlt schon die Ausstattung. Wir haben die ökonomische Basis eines Landes der Dritten Welt.
Westliche Sponsoren haben sich noch nicht gemeldet?
Nein, bis auf die amerikanische Botschaft. Die wird im Juni ein Festival in Moskau unterstützen. Aber ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob man das Reklame nennen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen