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Nur Kurt Hager erhielt Akteneinsicht

■ Derzeit verpackt, demnächst unter gesamtdeutschem Datenschutz: „Personenbezogenes Schriftgut des ehem. MfS“

In der Zeitung las ich ('Süddeutsche‘ vom 26.5.1990), was der Ideologiestalinist Kurt Hager einem verständnisvollen westdeutschen Schriftsteller zeigte in diesen Tagen: ein rot eingeschlagenes Album, das er zu seinem 60. Geburtstag von der Stasi erhalten hatte - Hagers faksimilierte Gestapo -Akte. Der Band, so wurde geschildert, war groß und schwer. Die Nazis hatten allerhand zusammengetragen über den verfolgten Kommunisten. Die Stasi sorgte für Transparenz und ehrendes Erinnern. Eine Organisation des Partei- und Staatsterrorismus übergibt dem Opfer einer anderen partei und staatsterroristischen Organisation seine eigene Verfolgungsakte. Das Opfer ist inzwischen diktatorischer Machthaber geworden. Er verherrlicht als Philosophieprofessor Stalin und trägt als Politbüromitglied Verantwortung für die Verfolgungen von Andersdenkenden. Gorbatschows Demokratisierungspolitik lehnte er ab als „Tapetenwechsel“.

Auch so kann deutsche Geschichte verlaufen. Ein rot eingeschlagenes Album haben sie ihm übergeben. Und was ist mit unseren Akten? Robert Havemann, bis 1945 in Brandenburg in der Todeszelle, Mitbegründer einer antifaschistischen Widerstandsgruppe, seit 1964 Lehrverbot, seit 1976 im Hausarrest, sein Freund Wolf Biermann ausgebürgert, andere im Gefängnis. Noch auf dem Friedhof lungerten Stasi-Büttel umher, als er 1982 starb. Seiner Frau Katja schrieb der Generalstaatsanwalt am 12.3.1990: „Die Suche nach den Strafakten von Herrn Dr.Havemann gestaltet sich schwierig.“ Nichts ist mehr auffindbar im Zentralarchiv des MfS, wo die alten Archivare noch ihrer Tätigkeit nachgehen. Auch die über 500 Gegenstände sind verschwunden, die 1979 bei einer Hausdurchsuchung in Grünheide weggeschleppt wurden, Manuskripte, Bücher, Videokassetten, Platten, ein kleiner Taschenrechner, eine Schreibmaschine... Und auch Kassiber aus dem Jahre 1944, herausgeschmuggelt von seinen Kameraden aus dem Zuchthaus Brandenburg, Briefe an die Familie und die Genossen... Alles weg. In Körben und Mülltüten abtransportiert. Regierung, Richter und Staatsanwälte ermöglichten, was die Stasi ausführte in all den Jahren. Und was schrieb mir der Generalstaatsanwalt auf meine Forderung nach Einsicht in alle MfS-Materialien, Brief vom 19.4.1990: „Was Ihre Forderung nach Akteneinsicht betrifft, so kann Ihnen nicht geholfen werden. Das personenbezogene Schriftgut des ehem. MfS ist bis zu einer gesetzlichen Regelung gesperrt und wird es wohl auch dann, vergleichbare Regelungen in der BRD oder anderen westeuropäischen Staaten berücksichtigend, bleiben.“

Wir wollen keine rot eingebundenen Alben zum Geburtstag. Wir wollen die Wahrheit wissen, die Fakten, die Namen, die Unterschriften. Wir wollen haben, was uns gehört. Und öffentlich soll es werden, weil so viele von diesen heimlichen Mächten gequält wurden. Wir wollen keine Rache, sondern Recht. Vorher kann es keine „Ruhe“, keine Bewältigung geben. Wo sind die Dossiers, die Befehle, die Anleitungen über die Repressalien, „Operationen“ und Verbrechen?

Wo sind die Bücher und Manuskripte? Wo sind Robert Havemanns Kassiber aus dem Jahre 1944, beschlagnahmt vom MfS 1979, Herr Honecker, Herr Hager, Herr Mielke, Herr Krenz, Herr Wolf, Herr Modrow, Herr Diestel?

Jürgen Fuchs, Schriftsteller

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