: Mit Utopien darf man nicht bedenkenlos spielen
■ Die sowjetische Soziologin Larissa Lissjutkina über die realen Kosten der sozialistischen Utopie und über den Preis, den die Frauen zahlen „Es geht zunächst darum, die allgemein-menschliche Emanzipation zu erreichen“ / Die heutige Sowjetunion ist eine Übergangsgesellschaft
taz: Sie haben sich in Ihrer wissenschaftlichen Karriere von Anfang an lieber mit sogenannten bürgerlichen Autoren als mit Karl Marx beschäftigt.
Larissa Lissjutkina: Ja, die Methodologie beispielsweise von Max Weber war für mich ansprechender als die marxistische. Schon damals war absolut klar, daß der Marxismus keine Möglichkeiten bot, die Menschen einzubeziehen. Der Mensch war eliminiert worden. Diese Methodologie, die sich stets nur mit Produktionsverhältnissen und Produktivkräften beschäftigte, wurde soweit getrieben, daß sie keine Berührung mehr mit der Wirklichkeit hatte. Bis vor kurzem war der Wissenschaftsbetrieb an den Universitäten ein Spiel nach strengen Regeln. Wer diese Regeln nicht akzeptierte, flog raus. Es gibt bei uns eine ganze Generation von Wissenschaftlern und Künstlern, die Hausmeister, Wächter oder Heizer geworden sind.
Wie kamen Sie dazu, sich mit Frauenfragen zu beschäftigen?
Nachdem ich Max Weber studiert und ein Verständnis seiner Methodologie entwickelt hatte, wandte ich mich der Kulturforschung zu. Ich konzentrierte mich auf westliche kulturelle Traditionen, die mit den Jugendrebellionen der sechziger Jahre ihren Anfang genommen hatten, und zwar insbesondere in Deutschland. In den siebziger Jahren waren meine Themen der Terrorismus, die alternativen Bewegungen, die neuen sozialen Bewegungen, und darunter natürlich der Feminismus beziehungsweise alles, was damit zusammenhängt.
Wie sehen Frauen in der Sowjetunion ihre eigene Situation, welche Wege wollen sie unter den neuen Bedingungen gehen?
Genau damit beschäftige ich mich im Rahmen der Kulturforschung, und zwar in einem Land, in dem wir augenblicklich einen totalen Zusammenbruch aller integrierenden Mechanismen erleben, die eine Gesellschaft überhaupt menschlich machen, eine Krise, die wir Perestroika nennen. Diese Krise betrifft nicht nur das politische Regime, nicht nur das ökonomische System und nicht nur die Lage einzelner sozialer Gruppen. Die Probleme, sind viel tiefer verwurzelt, sind sie doch auf den utopischen Versuch zurückzuführen, eine völlig neue Zivilisation zu schaffen. Die russische Revolution unterscheidet sich ja von anderen geschichtlich bekannten Revolutionen dadurch, daß sie eben nicht bestrebt war, einer Klasse oder sozialen Schicht die Möglichkeit der Emanzipation zu geben, wie etwa die französische oder die deutsche Revolution, in deren Mittelpunkt die Emanzipation der Bourgeoisie und die Beseitigung der feudalistischen Relikte stand. In der russischen Revolution wurde zum erstenmal der Versuch unternommen, die organische Entwicklung der Geschichte zu durchbrechen. Der revolutionäre Anspruch betraf nicht nur das politische System, sondern auch den kulturellen Konsens. Die orthodoxe Kirche wurde praktisch vernichtet, der Glaube so gut wie verboten. Die herkömmlichen kulturellen Äußerungen wurden für untauglich und korrupt erklärt, die moralischen Normen aufgehoben: Die Revolution schuf und beanspruchte eine neue Moral. Jetzt, nach 72 Jahren dieses Experiments mit und an lebendigen Menschen, kann ich kein anderes historisches Ereignis nennen, das die Menschen vergleichbar viele Opfer gekostet hat. Man kann eine Gesellschaft eben nicht nach einem theoretischen Entwurf bauen. Dem lag die falsche Vorstellung zugrunde, alle menschlichen Beziehungen über die Ideologie regeln zu können. Gleichzeitig war das aber auch der Versuch, eine in Rußland verwurzelte Idee von der Unsterblichkeit des Menschen zu verwirklichen.
Sie meinen, eine Anknüpfung an Werte, die bereits vor der Revolution existierten?
Ja, man kann den revolutionären Utopismus nicht ausschließlich auf die marxistische Tradition beschränken. Rußland war immer unterdrückt, und unter den unterdrückten Völkern entstehen stets eschatologische, utopische Vorstellungen, die das extreme Gegenteil dessen verkörpern, was die Menschen im wirklichen Leben vorfinden. Wenn ich mich mit der Geschichte meines Landes beschäftige, finde ich zum Beispiel krasse und anschauliche Parallelen zur Geschichte des Protestantismus. Auch dort gab es solche eschatologischen Vorstellungen, daß man hier und jetzt die ideale Gesellschaft aufbauen könne, wenn nur alles Störende beseitigt sei. Allerdings entdeckte man bei diesem Versuch dann immer, daß es eigentlich nur ein Hindernis gibt: den Menschen. Er ist das störende Element. Und so wird der Mensch beseitigt. Oder man zwingt ihn zu unmenschlichen Verhaltensweisen, nachdem er seine Menschenwürde verloren hat und manipulierbar wurde. Diesen Mechanismus hat auch George Orwell in seinem Roman 1984 beschrieben. Unsere Geschichte ist gewissermaßen ein einzigartiges Experiment in der Unterdrückung der Bevölkerung eines riesigen Landes.
Am Beginn dieses Experiments stand aber doch die Frage, wie ein Land von den Zwängen befreit werden könne, unter denen es litt.
Sicher. Das Schrecklichste an den Utopien ist ja gerade, daß sie sich verwirklichen lassen. Natürlich kann man sich kaum eine gesellschaftliche Utopie vorstellen, die von Anfang an Unterdrückung zum Ziel hat. Selbstverständlich arbeitet man mit den Begriffen Emanzipation, Freiheit und Glück. Wenn die Menschen aber auch nur etwas aus ihrer Geschichte lernen wollen, dann, daß man mit Utopien nicht bedenkenlos spielen darf. Andererseits bedeutet der Verlust des Utopischen einen Verlust des menschlichen Potentials. Utopien besitzen eine ungeheure Mobilisierungskraft. Für gesellschaftliche Utopien stellen die Menschen freiwillig ihre Kräfte zur Verfügung.
Sie haben einmal davon gesprochen, daß in totalitären Regimes die Persönlichkeit des Mannes stärker Schaden nimmt als die der Frau. Wie erklären Sie das?
Da kann ich als Beispiel auch wieder Orwells 1984 anführen, weil dort das Muster beschrieben wird, wie man dem Menschen die Widerstandskraft nehmen kann. Man muß ihn erniedrigen, zum Verrat zwingen. Auch bei uns sind die historisch gewachsenen Vorstellungen von der sozialen Rolle des Mannes unvereinbar mit totalitärer Unterdrückung. Selbstverständlich wäre zu erwarten, daß zuallererst die Männer Widerstand gegen das unmenschliche System der Unterdrückung leisten. Also lag es im Interesse des Systems und war eine Bedingung seines Fortbestandes, daß die Männer erniedrigt und zum Verrat gezwungen wurden. Eine erniedrigte Persönlichkeit verfügt häufig über zerstörerische Kräfte, doch zum bewußten Widerstand ist sie unfähig.
Bei Frauen wirkt die Unterdrückung also anders?
Im Grunde machen totalitäre Regime keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Das lag schon in den Anfängen der Utopie selbst, weil in der kommunistischen Idee jeder Unterschied zwischen Mann und Frau als aufgehoben gilt. Real ist das dann umgeschlagen in die Gleichheit im Gulag. In unserem Alltag betrifft das zum Beispiel unsere Vorstellung vom Wohnen. Eigentlich sollte die Wohnung der Raum sein, wo der Mensch sich frei fühlen kann. Unser Staat hat sogar erklärt, alle Menschen hätten ein Recht auf menschenwürdiges Wohnen. Nur ist es in der Wirklichkeit anders. Erfahrungsgemäß können westliche Menschen unsere Gesetze, die das Wohnrecht normieren, nur schwer begreifen. Der Sowjetmensch hat ein Anrecht auf eine neue Wohnung, sollten ihm mit seiner Familie weniger als fünf Quadratmeter pro Person zur Verfügung stehen. Ich teile meine Wohnung zum Beispiel mit einem Paar, das in einem Zimmer von neun Quadratmetern leben muß. Ich selbst habe ein Zimmer, das 17 Quadratmeter mißt. Das bedeutet, ich habe mehr als dreimal so viel Platz wie meine Nachbarn. Um ein Anrecht auf eine andere Wohnung zu haben, müßte ich mindestens verheiratet sein und zwei Kinder haben. Hier werden also Normen zugrunde gelegt, die für die Häftlinge im Gulag galten. Auch das Prinzip, Fremde zwangsweise unter einem Dach unterzubringen, entspricht dem Leben im Gefängnis. In eine solche Not und Erniedrigung gedrängt, gibt es kaum Möglichkeiten, sich als Frau bewußt zu werden. Also geht es jetzt zunächst darum, die allgemein menschliche Emanzipation zu erreichen. Im Totalitarismus sind alle gleichgeschaltet. Erst unter minimalen menschlichen Lebensbedingungen können wir uns bewußt als Frauen und Männer wahrnehmen.
Liegt also in den schlechten Lebensbedingungen der Grund, warum es in der Sowjetunion keine mit westlichen Ländern vergleichbare Frauenbewegung gibt?
Das kann der tiefere Grund sein, neben vielen anderen. Die Frauen haben zum Beispiel überhaupt keine Möglichkeit, über „Frauenfragen“ nachzudenken. Ich habe das Privileg, zu Hause zu arbeiten, aber meine Nachbarin muß um sechs Uhr früh aufstehen, den Haushalt erledigen und ist dann anderthalb Stunden zur Arbeitsstelle unterwegs. Dort arbeitet sie acht Stunden und ist erneut anderthalb Stunden unterwegs. So sitzt sie insgesamt drei Stunden in U-Bahn oder Bussen. Dann muß sie Schlange stehen, waschen, putzen und Essen kochen. Hätte sie Kinder, müßte sie sich auch noch um sie kümmern. Was bleibt ihr vom Leben? Nur diese fünf oder sechs Stunden, die sie schläft? Können Frauen, die unter solchen Umständen ihr ganzes Leben verbringen, überhaupt noch Widerstand leisten? Wenn wir mit unseren westlichen Kolleginnen zusammentreffen, fällt es uns leicht, gemeinsame Positionen und Werte zu entwickeln. Zum Konflikt kommt es aber dann, wenn es um die Frage der Frauenemanzipation geht. Ich habe oft erlebt, daß westliche Gesprächspartnerinnen wütend wurden, wenn unsere Frauen ihre Vorstellungen von Emanzipation vortrugen. Sie wurden dann häufig als spießig bezeichnet. Doch man kann verstehen, daß für uns die Möglichkeiten westlicher Mittelklassefrauen ein Ideal darstellt, nach dem wir streben. Ist es denn überraschend, wenn eine sowjetische Frau sich schicke Kleidung oder französisches Parfüm wünscht, daß sie von einem Mann wie eine Frau behandelt werden und das Recht haben will, eine schwere und uninteressante Arbeit auch einmal abzulehnen? Natürlich ist dies das Gegenteil dessen, was westliche Frauen für Emanzipation halten.
Wie gestaltet sich in der Sowjetunion das Zusammenleben zwischen Mann und Frau?
Die Frauen sind einsam. Zu all den Problemen, die sie in der Sowjetunion haben, kommt noch hinzu, daß viele Frauen der Nachkriegsgeneration keine Männer haben. Später hat sich das zahlenmäßige Gleichgewicht wiederhergestellt. Aber das Problem ist, daß die Männer, die von Anfang an ökonomisch, menschlich, politisch und sozial erniedrigt waren, ihre Familien nicht wirklich unterstützen, daß sie ihren Frauen nicht als richtige Männer begegnen können.
Was verstehen Sie in diesem Zusammenhang unter einem „richtigen Mann“.
Der Mann sollte sich in Harmonie mit sich selber fühlen. Leider sind unsere Männer durch ihre Lebensumstände zur inneren Disharmonie verurteilt. Dadurch finden die Frauen keine Bestätigung der Erwartungen, die sie von ihren Männern oder Freunden haben. Gemeint sind nicht unbedingt die patriarchalischen Erwartungen an einen starken Mann, der die Familie unterhält. Die Männer können ganz berechtigten Erwartungen nicht entsprechen, weil sie eben total unterdrückt sind. Natürlich gilt das auch für die Frauen, aber vielleicht haben sie sich durch ihre Kinder mehr Menschlichkeit erhalten können. Männer haben zahlreiche Ängste entwickelt, im Beruf, vor den Frauen, vor der Familie, so als ob sie ein imaginäres Transparent vor sich hertrügen, auf dem steht: Bitte verlasse dich nicht auf mich. Wenn sie sich trauen, Kontakt zu einer Frau aufzunehmen, haben sie in erster Linie Angst vor der Verantwortung. Das schadet natürlich dem Selbstgefühl der Männer. Und hier entsteht ein realer Konflikt zwischen den Geschlechtern: Die Frauen können die Männer nicht so akzeptieren, wie sie sind. Denn es ist etwas geschehen, was das gegenseitige Verständnis zwischen Frauen und Männern unmöglich gemacht hat.
Wie kann es unter solchen Bedingungen denn eigentlich weitergehen?
Die gegenwärtige Krise läßt sich so charakterisieren, daß wir uns im Augenblick im Übergang zwischen einer utopischen, künstlich geschaffenen Gesellschaft und sich organisch entwickelnden Verhältnissen befinden. Wir müssen deshalb endlich Brücken schlagen zu unserer Vergangenheit, natürlich nicht zur Sklavenhalterordnung oder zur Leibeigenschaft. Das Experiment mit der Klassenmoral ist offensichtlich gescheitert. Im Augenblick sehen die Menschen keine positiven Perspektiven und kein Gegengewicht zu den oktroyierten Vorstellungen von Klassenmoral. Es ist völlig klar, daß man damit nicht weiter leben kann. Aber mit welchen neuen Werten man leben kann, darauf gibt es noch keine Antwort. Am Ende des vergangenen Jahrhunderts existierten allgemein anerkannte positive Ideale, und zwar unter dem Begriff Sozialismus. Am Ende dieses Jahrhunderts sieht es ganz anders aus. Heute steht lediglich fest, daß man durch die Gestaltung von Produktionsverhältnissen und Produktionsmitteln die Menschen nicht humanisieren kann.
Interview: Barbara Geier
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