: Was bringt die „Sozialunion“ für die DDR-Bürger
■ Überblick des Ministeriums für Arbeit und Soziales mit Lücken / Die Darstellung verschweigt Einschränkungen von Rechten der Beschäftigten / Nur fünf freie Tage für kranke Kinder / Unternehmer haben immer die Mehrheit / Regelungen zur Sozialversicherung
Berlin (adn/taz) - Zwar zweifelt niemand mehr daran, daß zum 1. Juli die Wirtschafts- und Währungsunion kommt, ob es aber auch eine Sozialunion sein wird, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Im Staatsvertrag, über den im Juni in Bundestag und Volkskammer beschlossen wird, sind auch Regelungen zur Arbeits- und Sozialgesetzgebung festgeschrieben, die in der Tendenz auf eine Angleichung des bis jetzt geltenden DDR-Rechts an bundesdeutsches Recht hinauslaufen. Das Ministerium für Arbeit und Soziales hat nun eine Übersicht über die wichtigsten Veränderungen vorgelegt. Anpassung
des Arbeitsrechts
Mit der Änderung des Arbeitsgesetzbuches und der Übernahme von Gesetzen der Bundesrepublik wird die Arbeitsrechtsordnung der DDR an die Bedingungen der „sozialen Marktwirtschaft“ angepaßt. Im einzelnen umfaßt dieses Maßnahmenpaket folgende Aspekte:
Tarifrecht: Arbeitgeber und Gewerkschaften erhalten volle Tarifautonomie, auf deren Grundlage sie Arbeitsentgelt, Arbeitszeit, Urlaub und soziale Sicherungen ohne Einmischung des Staates eigenverantwortlich regeln können. Die Tarifverträge legen Mindestnormen fest, auf die alle Beschäftigten im Geltungsbereich der Tarifverträge einen gesetzesgleichen Anspruch haben. Natürlich haben Beschäftigte auch das Recht, über die Tarifnormen hinauszugehen und ihren Arbeitsvertrag zu günstigeren Bedingungen abzuschließen, also z. B. individuell mit dem Arbeitgeber höhere als die Tariflöhne zu vereinbaren. Tarifnormen gelten im Prinzip nur für Mitglieder der Tarifvertragsparteien. Es ist aber herrschende Norm in der Bundesrepublik, sie allgemeinverbindlich in Kraft zu setzen. Allerdings gibt es immer wieder Unternehmer, die durch Austritt aus dem Arbeitgeberverband versuchen, sich den tariflichen Verpflichtungen zu entziehen.
Kündigungsschutz: Das Kündigungsschutzgesetz der Bundesrepublik wird für die DDR übernommen. Es soll sozial ungerechtfertigten Kündigungen entgegenwirken. Der besondere Kündigungsschutz bei Mutterschaft, für Alleinerziehende mit Kindern bis zu drei Jahren und für Schwerbehinderte bleibt, so die Mitteilung des Ministeriums, erhalten. Aber Vorsicht! Was das Ministerium nicht dazu gesagt hat: Nach bundesdeutschem Recht können Beschäftigte bis zu einem halben Jahr nach Arbeitsbeginn ohne Begründung wieder gefeuert werden, wenn es keine abweichende Vereinbarung mit dem Arbeitgeber gibt. Auch gibt es kein Recht für Auszubildende, nach Beendigung der Lehrzeit in ein volles Normalarbeitsverhältnis übernommen zu werden. Schließlich haben die Arbeitgeber zukünftig auch in der DDR die Möglichkeit, befristete Arbeitsverhältnisse abzuschließen, nach deren Ablauf das Beschäftigungsverhältnis automatisch, d.h. ohne besondere Kündigung, endet.
Betriebliche Sozialleistungen: Nach Angaben des Ministeriums bleiben die für Frauen und Mütter bedeutsamen Rechte auf Schwangerschafts- und Wochenurlaub, Freistellung zur Pflege erkrankter Kinder sowie auf den Hausarbeitstag bestehen. Offensichtlich werden diese Rechte erst später auf bundesdeutschen Standard gebracht. Das wird in einigen Fällen ein böses Erwachen geben. In der Bundesrepublik dürfen Eltern beispielsweise nicht mehr als fünf Tage wegen der Plege ihres kranken Kindes der Arbeit fernbleiben. Viele Eltern sind deshalb bei längerer Krankheit des Kindes zu einem unwürdigen Bittgang zu einsichtigen Ärzten gezwungen, um für sich selbst eine fingierte Krankschreibung ausstellen zu lassen. Laut Lohnfortzahlungsgesetz der Bundesrepublik muß der Betrieb im Krankheitsfall sechs Wochen lang den vollen Lohn weiterzahlen. Danach zahlt die Krankenkasse je nach Kinderzahl zwischen 70 und 90 Prozent des Nettolohns.
Mitbestimmung: Nach der Ministeriumsmitteilung werden die Arbeitnehmer in Zukunft in den Aufsichtsräten „an wichtigen unternehmerischen Planungen und Entscheidungen teilhaben“. Tatsächlich ist es mit der Mitbestimung der Aufsichtsräte nicht weit her, weil die Unternehmer grundsätzlich bei kontroversen Entscheidungen die Mehrheit haben. Dennoch haben die Aufsichtsräte der Arbeitnehmerseite natürlich Zugang zu Informationen über die Planungen der Geschäftsleitung, die in der praktischen Politik der Betriebsräte von Nutzen sein können. Die Betriebsräte haben laut Betriebsverfassungsgesetz ein Mitbestimmungsrecht in Personal- und Sozialangelegenheiten. In einigen Fällen, etwa bei Umsetzungen innerhalb des Betriebes, haben sie ein Vetorecht. Sie können mit dem Unternehmen Betriebsvereinbarungen über bestimmte betriebliche Sozialleistungen treffen, z. B. über Sozialpläne bei Entlassungen oder Betriebsschließungen. Bis zum 31. Dezember sollen in allen Betrieben Betriebsratswahlen stattgefunden haben. Solange es keine gewählten Betriebsräte gibt, bleiben die bisherigen Arbeitnehmervertretungen im Amt, soweit sie demokratisch gewählt wurden. Betriebsräte und Aufsichtsräte sind, obwohl als Interessenvertretung der Beschäftigten installiert, gesetzlich auf das „Wohl“ des Betriebes verpflichtet, dürfen also nicht, wie die Gewerkschaften, selbst zu Arbeitsverweigerungen aufrufen. Denn die verstoßen nach bundesdeutscher Rechtssprechung gegen das betriebliche Wohl. Die Sozialversicherungen
In der DDR werden Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung nach bundesdeutschem Muster eingeführt. Sie werden durch die Beiträge finanziert, je zur Hälfte von den Versicherten und von den Arbeitgebern. Die Unfallversicherung wird von den Arbeitgebern allein finanziert. Die Sozialversicherungspflicht bleibt bestehen. Insgesamt werden 17,90 Prozent des Bruttoeinkommens für Versicherungsbeiträge aufgewendet. Die Arbeitslosenversicherung muß in der DDR völlig neu aufgebaut werden.
Zum 1. Juli werden die Bestandrenten auf ein Nettorentenniveau festgelegt. Wer die Voraussetzungen erfüllt (45 anrechenbare Versicherungsjahre), durchschnittlich verdient und Beiträge zur Pflichtversicherung und zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR) bezahlt hat, bekommt eine Rente in Höhe von 70 Prozent des durchschnittlichen Nettoverdienstes in der DDR. Der gegenwärtige durchschnittliche Nettoverdienst beträgt 960 Mark. Mit der Veränderung der Beitragsbemessungsgrenze für die Pflichtversicherung von bisher 600 Mark auf 2.400 Mark (bzw. DM) entfällt ab 1.7.90 die Notwendigkeit der FZR. Sie wird deshalb geschlossen. Alle bisher gezahlten Beiträge bleiben „rentenwirksam“.
Die Leistungen der Krankenkassen bleiben im bisherigen Umfang bestehen. Auch die Rentner sind bei den Krankenkassen versichert, ohne daß dadurch eine Rentenminderung eintritt. Die Renten sollen in Zukunft, entsprechend der bundesdeutschen Regelung, jährlich an die Entwicklung der Nettolöhne angepaßt werden.
marke
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