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DIE ZEIT DER SOZIALEN ABFEDERER

■ Generationskonflikt, Unübersichtlichkeit und Umbruch - muß daraus Schwarzweißmalerei zwingend folgen? / Ein Beitrag zum Streit um Kreuzberg und seinen 1.Mai / Versuch einer Antwort auf die Artikel in der taz vom 20.4.1990

Das Eckchen an der Ex-Mauer - und die Berichterstattung darüber in taz, 'Spiegel‘ und anderswo. Am bequemsten ist es, wenn man den Begriff Kreuzberg erst einmal nur geographisch verstehen will: Ein paar Straßenzüge zwischen Schlesischem und Halleschem Tor - und schon wird daraus ein lächerlicher Regionalkonflikt. Eine ausbaufähige Strategie: sodann reduziere man alles, was sich dort als links (autonom, Szene, Widerstand, Antifa, antirassistisch, internationalistisch, antipatriarchalisch...) bezeichnet und keinen akademischen Abschluß vorweisen kann, auf wenige hundert zuzüglich Sympathisanten (Copyright: Springer, BKA...), und stelle sogleich klar, daß es entweder (Wohlstands-) Kinder oder Verrückte mit Verfolgungswahn sind. Dies alles würze man dann mit der Feststellung, erstens handele es sich um gerade flügge gewordene, süddeutsche Landjugend (Copyright ursprünglich: CDU) und zweitens um völlig mafiosimäßig organisierte GewaltfetischistInnen. Und darüber gieße man dann noch eine typisch deutsche Soße, eine bräunliche: triefend vor eigenem Antifaschismus fühle man sich angesichts des so zurechtgekochten Chaoten-Feindbildes schließlich an Deutschlands Vergangenheit erinnert... Jeder bräunt jeden. Das hat 40 Jahre bundesrepublikanische Tradition und funktioniert immer, siehe Geißler (Pazifisten), Kohl (Goebbels-Gorbi) und andere. Den Sympathisanten dieser Schwarzgewandeten wiederum unterstelle man, sie kämen in fünfstelliger Zahl regelmäßig auf Kommando quasi als ferngesteuerte Zombis, um den verehrten Einzelkämpfern Deckung und Fluchtweg zu bieten. Sodann sichte man - a la Polizei-Verfassungsschutz-Kewenig - das vorliegende Flugblattmaterial. Irgendwo wird sich ein gewaltauffordernder Satz im Revolutionskauderwelsch schon finden. Klar, hier spricht nun die geheime Kommandozentrale. Jetzt besteht Anlaß zur Warnung des Restes der Welt. Dazu lassen sich schließlich problemlos alle Vorfälle, Anschläge, Aktionen, Demos, Krawalle und Drohungen der letzten Jahre wild zusammengewürfelt zusammenzählen - und fertig ist die Verschwörertheorie. Zum Schluß muß dann nur noch die eigene Position der SchulmeisterInnen herausgearbeitet werden, auf daß sie nicht der CDU, der 'BZ‘ oder noch Schlimmerem zugeordnet werde. Richtig: Hier spricht ein echter Kreuzberger, ein 81er oder 68er, ein wahrer Linker, jetzt Metropolenbürger und Hauptstädter, der durchschaut, was früher richtig war und heute falsch ist. Nach diesem Anti -Berliner-Ausgrenzungs-Rezept (Copyright by E. Diepgen, 1.5.1987) haben bisweilen auch taz-AutorInnen Eintopf gekocht.

Genau andersrum läßt sich ein solches Schwarzweiß-Mosaik auch zusammenpuzzeln: Wer geplünderte Schnapsläden nicht geil findet, Westberliner Polizisten nicht als weltweit größtes denkbares Feindbild bekämpfen möchte oder Gewalt für gefährlich, scheinheilig-romantisch oder sinnlos hält - ist ein Yuppie, Verräter, Spalter. Mit Stuck-Altbau, ökobourgeoisem Konsum-lifestyle und natürlich geheimem Volksbefriedungsauftrag.

Und schon wieder trieft die Moral.

Günter Grass hat nach der Maueröffnung in einem taz -Interview gesagt, nun herrsche Traumverbot in Deutschland. Ein bitterer Satz nach einem (fast) von jedermann gefeierten, glücklichen Ereignis. Eine Feststellung zum Zustand der Linken, die auch den Streit und die Diskussion um Kreuzberg und seinen 1.Mai erhellt - und verdeutlichen kann, warum es sich dabei nicht um einen kindischen WG -Knatsch im von der Zeit überrannten gallischen Dörfchen handelt. Und auch nicht nur um einen Generationskonflikt...

Angebrochen scheint für einige wenige Linke die Zeit der alles versöhnenden Vernunft, der akademischen Planer, der (sozialdemokratischen) Realos, Szenarienmaler und Problemlöser. Es ist die postmoderne Zeit des Modeworts der sozialen Abfederung. Die Zeit der Exekutiven. Wer jetzt noch mehr will, weiter träumt, wer noch nicht am elitären Endpunkt von Dutschkes langem Marsch angelangt ist oder dort nicht hin will, der darf im ideologiefreien Sandkasten der gelehrten Deutschland-, Europa-, Metropolen- und Hauptstadtplaner nicht mitspielen. Und vergessen scheint, daß ohne massenhaften Widerstand Fortschritt noch nie erreicht wurde...

Klar, daß jene nun versöhnten MacherInnen mit dem zugegebenermaßen oft unerträglich verkitschten, chaotischen Mythos Kreuzberg nicht mehr zurechtkommen. Zu vielschichtig -unübersichtlich präsentiert sich auch das 1.-Mai-Fest. Steht doch dahinter nicht nur hohle Revolutionsromantik, sondern wild durcheinander auch die Ideen des Solidarischen, der Sammlung der vielen politischen „Zusammenhänge“, des Biertrinkens in der Sonne, der Visionen und der anderen Masse. Und Massen brauchen Zeit zum Diskutieren und zum Artikulieren. Wer nun - wie in den letzten Wochen wiederholt geschehen - die Texte weniger Flugblätter einer fünfstelligen Zahl Menschen überstülpt und daraus ableitet, diese hätten provinziell die neuen Entwicklungen verschlafen und klammerten sich ans alte Kiez-Weltbild, handelt dumm. Auch im Sinne seiner eigenen Ziele: Wie soll erreicht werden, daß dieses Land nicht in Ausländerfeindlichkeit, Neid und Frust verkommt? Wie soll verhindert werden, daß hier nicht ein Moloch Hauptstadt für Daimlers und Großbanken entsteht? Und wie können jene gestoppt werden, die schon jetzt an Oder und Neiße die neue Armutsgrenze aufbauen? Doch nur auf sehr breiter Basis und mit allen Formen von politischer Widerstandskultur - gerade auch auf der Straße, furchtbar unübersichtlich und ganz unproduktiv demokratisch.

Dies beginnt für viele im Kiez und beim Aussprechen der eigenen, ganz neuen Existenzängste. Erkämpfte Freiräume am Rande und außerhalb der Normalbürgergesellschaft müssen gerettet und neu erkämpft, alte Fluchtburgen und neue Lebensformen bewahrt werden. Die verklärten Erinnerungen der mittlerweile arrivierten „Professionals“ bringen den Jüngeren gar nichts. Und die Projekte-Politik dieser linken Macher bleibt so lange abzubuchen unter gut-gemeint, aber wirkungslos, wie es ihr nicht gelingt, eine breitere Basis (wieder-)zufinden. Klar, jenes idyllische Kreuzberg gibt es schon jetzt nicht mehr. Aber viele Strukturen, Errungenschaften und Strategien sind vorhanden - und könnten zu Mosaiksteinchen jener anderen, unbequemen Hauptstadt werden, die es den Diepgens und Mompers entgegenzubauen gilt.

Dort aber, wo jedeR zuallererst 800 Mark Miete verdient haben muß, um überhaupt erst einmal in einem Schuhkartonappartement isoliert hausen zu können, bestimmen andere, wo es lang geht. Und dort könnte ideell und materiell auch eine taz nicht mehr entstehen.

Thomas Kuppinger Der Autor ist Redakteur im Berlinteil der ta

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