: Frankreich vor neuer Abschiebewelle
■ Asylbehörde arbeitet mit Hochdruck: Bis Jahresende will die Regierung sämtliche Anträge erledigt wissen / Massenhaftes Abtauchen von Asylsuchenden erwartet / Popularitätsverlust für Nationale Front
Paris (taz) - Mauern fallen nicht, Mauern werden nur verschoben: Frankreich ist dabei, seine Asylpolitik radikal zu verschärfen. Bis zum Jahresende, so die Direktive von Premierminister Rocard an den Direktor der Asylbehörde OFRA, sollen „sämtliche laufende Dossiers“, also etwa 120.000 Asylanträge, geregelt werden. Nachdem die Zahl der Anträge sich im vergangenen Jahr auf 61.400 verdoppelte, sei außerdem dafür zu sorgen, daß „neue Anträge zukünftig innerhalb von drei Monaten bearbeitet“ werden.
Gesagt, getan. Das Budget der Behörde wurde für 1990 verdreifacht, und Anfang Januar rief die OFRA ihr Personal zu einer „Generalmobilmachung“: 883 Francs monatliche Prämie für jeden Angestellten, falls bis zum ersten Juli 80.000 Anträge bearbeitet würden. Kein Wunder, daß da keine Zeit bleibt, die Asylbewerber persönlich anzuhören, wie Flüchtlingsgruppen der Behörde vorwerfen. Francoise Sauvagnargues von der „Cimade“ erklärt die von 28 Prozent (1982) auf 73 Prozent (1988) gestiegene Quote der Ablehnungen mit einer rigideren Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention: „Die OFRA velangt heute systematisch von den Leuten, Beweise für erlittene Verfolgung beizubringen. Das ist oft schwierig, ja unmöglich. Hier wird die Genfer Konvention umgangen.“ Doch es dürfte kaum ausschließlich um juristische Interpretationen gehen. Da die OFRA direkt dem Außenministerium unterstellt ist, liegt die Vermutung nahe, daß „es einen politischen Wunsch gibt, das Asylrecht zu beschränken, um keine neuen Ausländer mehr nach Frankreich zu lassen“, wie Patrick Mony von der Asylgruppe GISTI meint. Premier Rocard ist bereit, eine harte Haltung in Sachen Asylrecht einzunehmen, um einen Konsens mit der bürgerlichen Opposition gegen Le Pen zu ermöglichen.
Zur Zeit beträgt die Bearbeitungsdauer eines Antrags vier Monate. Ein erster „Erfolg“ der neuen Politik, der die Regierung dazu veranlaßte, über die Abschaffung der Arbeitserlaubnis für Asylbewerber nachzudenken. Im Unterschied zur BRD dürfen Asylbewerber in Frankreich eine Arbeit annehmen und haben Anspruch auf gewisse Sozialleistungen. Beim Gespräch am Runden Tisch vom Dienstag forderte die Opposition die Regierung auf, diese Regelung aufzuheben, wozu Rocard bereit zu sein scheint.
Doch mit den Ablehnungen fangen die Probleme erst an. In Straßburg etwa „erledigte“ die OFRA in einer Blitzaktion sämtliche 760 Anträge. Sechzig wurden anerkannt. Folge: einigen hundert Familien, die teilweise bereits einige Jahre in Frankreich leben und arbeiten, bleibt jetzt ein Monat Zeit, das Land zu verlassen - sonst müßten sie theoretisch mit Gewalt abgeschoben werden. Am 16. Mai erklärte Rocard, daß „außer in besonderen humanitären Situationen, die Abschiebung der Regelfall sein wird, wenn der Ausländer versucht, irregulär in Frankreich zu bleiben“. Wenn die OFRA ihr Arbeitstempo und ihre Ablehnungsquote beibehält, wird das Innenministerium also bis zum Jahresende mindestens 80.000 Personen außer Landes bringen müssen - eine Aussicht, die nicht nur die Betroffenen ängstigt: im Innenministerium erinnert man sich noch gut an den Proteststurm, den die Abschiebung per Charterflug von 101 Asylbewerbern aus Mali 1987 ausgelöst hatte. Zudem, so wird im Ministerium offen eingestanden, sei es materiell unmöglich, ein massenhaftes Abtauchen der abgelehnten Asylbewerber in die Illegalität zu verhindern. Eine Generalamnestie wie 1982, als 132.000 Illegale ihre Aufenthaltsgenehmigungen bekamen, sei, so fürchten die Sozialisten, politisch heikel und könnte der Front National Auftrieb verschaffen.
Doch diese Einschätzung scheint nach den Grabschändungen jüdischer Friedhöfe seit Carpentras falsch zu sein. Nach einer neuesten Umfrage der Zeitung 'Paris-Match‘ ist die Popularität der Front National von 18 auf 13 Prozent zurückgegangen, nachdem sie in der Öffentlichkeit moralisch für die Grabschändung verantwortlich gemacht wurde.
A.Drandov/A.Smoltczyk
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen