Hänsel und Gretel zu Hause

■ Premiere im Tanztheater: Johann Kresniks Familiendrama „Familiendialog“ in einer Neueinrichtung

Die Familie ist schon da. Sitzt um die Festtafel hart am Publikum wie ein kafkaeskes Fleißbildchen: Heillos werfen zwei Kerzen Schatten auf das gute Geschirr mit dem Goldrand, und die Mutter blicket stumm um den ganzen Tisch herum. Was sie sieht, beunruhigt sie nicht: die Großmutter handarbeitet, die Tochter handarbeitet, der Großvater liest Bildzeitung, der Vater liest Buch, der Sohn sitzt gerade. Noch keine ganze Szene, aber schon der ganze kindliche Alptraum. Und natürlich eine Idylle, die ihre Atemnot hinter sich hat, weil sie längst erstickt ist. Vielleicht wie bei Hänsel und Gretel, wenn sie im 20.Jahrhundert und zu Hause geblieben wären.

Kresniks „Familiendialog“ beginnt so und sofort rücksichtslos. Führt uns durch den Engpaß der eigenen Erinnerung an trostlose Sonntagnachmittage mit guten Händchen und geduckten Gefühlen nicht hindurch, sondern läßt uns da stecken und zappeln und mitansehen, was für ein reales Vorkommnis die Familie ist. Und wirklich basiert Familiendialog, 1980 in Heidelberg entstanden und eines der erfolgreichsten Kresnik-Stücke, auf einem authentischen Fall. Der Heidelberger Psychiater Helm Stierlin schrieb das Libretto nach der Geschichte jener Familie, mit der er selbst therapeutisch gearbeitet hat: ein „deutsches Schicksal“. Eines jener Vätermütter mit nationalsozialistischer Vergangenheit, Unfähige zu trauern, an de

nen ihre Kinder zugrundegehn, weil sie wiedergutmachen wollen. Kresnik zeigt: Die subtil gewalttätige Unterdrückung in der Familie hat ihre Entsprechung in der Gesellschaft und umgekehrt.

Die Bühne, stacheldrahteingekesselt, ist ordentlich übersät mit Kleidern, das ist der Kostüm-Fundus. An einer Wand KZ -Anzüge. In gebührender Nähe zum untrauten Tisch warten die Requisiten des Nationalsozialismus, scheinbar museal, auf ihre Wiederbelebung: Vitrinen mit Nazi-Uniformen, Kreissägen, jetztzei

tige Plakatwände mit Vogel, Kohl, Lafontaine und Langnese. Plötzlich kreischt die Luft, daß man nicht mehr einzeln sehen kann, in einer Kakophonie aus Preßlufthammer, Kreissäge, Gustav Mahler und Steineklopfern. Und schon erstarren Vater und Mutter zum Standbild unter einem Kegel Kaltlicht und stellen passiertes Leben in Fotoalbumansichten dar: Hochzeit. Landverschickung. Stahlhelme. BDM-Mutter. SS -Vater. Hitlergrüße. Flucht aus dem Osten. Wiederaufbau -Schubkarre. Jetzt ist Sil

berhochzeit: Jetzt wird getanzt, Männer erzwingen Walzer von ihren Frauen, die drei Paare tanzen torkeln trudeln, stürzen ab. Brüderchen und Schwesterchen als einzige halten sich aneinander fest und es nützt doch nichts. Die Schuld der Eltern hängt ihnen an wie Pech. Annäherungsversuche scheitern, Aufklärungwollen scheitert, Rache scheitert; wutentbrannter Pas de deux mit Stuhl gegen den Vater, Pirouettenstrudel: die Auflehnung der Kinder gegen die Eltern ist ein Ringkampftanz um Leben und Tod,

eine Parade von gekrümmten Bewegungen, als hätten die Bilder Bauchschmerzen, alle Schrecken fliegen hoch.

Im Hintergrund ist das Volk eine schlechte Gesellschaft, die ein-und ausschließt. Sitzt auf Stühlen scheinbar gesellig, verrenkt sich vor Männern mit Gewehren. Eine regenmantelbleiche Herde: Einszweidreivier -fünfsechssiebenacht. Die Gewalt ist immer und überall, und während Brüderchen und seine erste Geliebte in einem ängstlich zärtlichen Liebestanz einander umschlingen, spielen Eltern und Großeltern in Zeitlupe Köpfeeinschlagen. Brüderchen wird verrückt und eingeliefert. Im Vordergrund am damastenen Tisch der Großvater liest die Schlagzeilen der Bildzeitung vor, scheinbar unpassend. Großmutter wischt. Auch den Glassarg von Brüderchen. Störend schmerzlich: Brüderchen hat sich mit einem Preßlufthammer umgebracht. Die Familie frißt ihre Kinder.

Kresnik, der parteinehmende Bilderwüterich, ist kein Mann der Zwischentöne, sondern der handgreiflichen Schrecken. Als wäre das Leben respektive Deutschland nicht bei Trost und eine Zumutung. Manchmal ist es des Schlechten zuviel bebildert und macht wirr statt klar. Aber das Ensemble (vor allem Regine Fritschi und Tomaß Kajdansi für den erkrankten Joachim Siska) reißt immer hin und weg und stürmt unaufhörlichem Beifall entgegen. Claudia Kohlhas