ENZYKLOPÄDISCHE ENTRÜCKUNG

■ „Ethos und Pathos - Die Berliner Bildhauerschule 1786-1914“ im Hamburger Bahnhof

Auch die Königin Luise im Tiergarten hat uns also bis heute genarrt. Ihre weiße Erhebung auf hohem Sockel inmitten des Blumengartens ist nur das Abbild eines Abbilds, das man wegen umweltbedingter Gefährdung in ein Reinluftreservoir am Landwehrkanal schützend verfrachtet hat. Indes hat uns dieser Betrug bis heute nicht unbedingt interessiert. Die meisten über die Stadt verstreuten Erinnerungs- und Mahngesichter, ob nun einfache oder doppelte Kopien aus Zeiten einer heute verachtenswert erscheinenden Machtrepräsentation, hatten in unseren Augen ihre Bestimmung mit der Funktion als Endlagerungsstätte für Taubendreck durchaus erfüllt.

Eine Ausstellung im Hamburger Bahnhof mit dem sprechenden Titel „Ethos und Pathos - Die Berliner Bildhauerschule 1786 -1914“ will nun eines Besseren belehren. Der Initiator der Ausstellung, Peter Bloch, begann 1967 den bis dahin geringen Bestand der Skulpturengalerie der Staatlichen Museen Preußischen Kulturbesitzes zu sichten und von dem Staub der Voreingenommenheit zu befreien. In 20jähriger Arbeit wurde auf manchem Friedhof von Efeu Zugewachsenes hervorgerzerrt, wurden die 1954 von den Alliierten im Schloßpark Bellevue vergrabenen Monumente der Siegesallee 1979 wieder ausgegraben, wurde versucht, „diese uns zeitlich so nahe, in ihrem Denken und Fühlen zuweilen ferne Epoche aus ihren eigenen Voraussetzungen zu begreifen, um Kategorien einer Wertung zu finden“.

Die Ausstellung, die die Zeit von 1786-1914 chronologisch in fünf Abschnitte unterteilt, bemüht sich denn auch, den Betrachter von der zeitlosen Gefälligkeit der bildhauerischen Produkte zu überzeugen: Eingerahmt von kleinen Rasenstücken oder Steingärtchen, sind die Einzelstücke in der luftigen Halle des Hamburger Bahnhofs so locker verteilt, daß sie den Besucher durchaus zu geschmäcklerischem Goutieren verleiten.

Was sie indes auch erklären möchte, geht nur aus den ausliegenden Begleitblättern hervor: daß sich von einer Berliner Bildhauerkunst erst seit Ende des 18.Jahrhunderts reden läßt. Von König Friedrich WilhelmII. gefördert, hatte sie von Anfang an eine unvereinbar scheinende Doppelfunktion: den Ideen der Aufklärung und dem Ideal des natürlichen Menschen verpflichtet, mußten die Bildwerke gleichzeitig Repräsentationsdienste im Sinne des Hofes leisten und wurden zu diesem Zweck klassizistisch -idealisierenden Darstellungsformen unterworfen.

Beispielhaft läßt sich das an dem 1797 ausgeführten Hauptwerk von Gottfried Schadow, dem ersten namhaften Berliner Bildhauer, ablesen: Es stellt die Prinzessinnen Luise und Friederike in trauter Umarmung dar und wurde gleichzeit „wegen des darin herrschenden echt griechischen Stiles, vorzüglich der Ausführung in Marmor“ für Wert befunden. Luise samt Schwester wurden also nicht nur in Gips gegossen, sondern auch im verkleinerten Modell als Vorlage für Porzellanbiskuitabgüsse für das bürgerliche Wohnzimmer hergestellt. Im Jahr der Fertigstellung der Prinzessinnengruppe starb jedoch Friedrich WilhelmII., Luise wurde Königin, ihr Mann, der regierende Friedrich WilhelmIII., empfand dieses Werk als „fatal“. Die Prinzessinnengruppe als Dokument von Anmut und Würde ging nach seiner Ansicht auf Kosten von Person und Würde der neuen Königin. Wo die Skulptur von da an bis heute überwinterte, wird indes nicht erläutert: Die Prinzessinnengruppe ist heute eines der Hauptwerke der Nationalgalerie in Ost-Berlin.

Die Ablösung des „Rokoko-Klassizismus“ von Schadow geht wiederum am Körper von Luise vor sich: die Ausführung ihres Grabmals durch Christian Daniel Rauch (um 1810) wurde stilprägend für die ersten Jahrzehnte des 19.Jahrhunderts. Die überlebensgroße Gestalt der Königin ruht im schlichten Kleid auf einem verhangenen Sarkophag. „Nur ein Diadem gemahnt an den Rang einer Königin, alle Größe geht von der menschlichen Erscheinung aus. Das Grabmal argumentiert mit der allgemeinen Würde des Menschen und steht am Beginn einer bürgerlichen Kunst“.

Die bis dahin immer noch intendierte Gleichzeitigkeit von individueller Profilierung und humanistischer Allgemeinheit in der Skulptur löst spätestens Rauchs jüngster Schüler Reinhold Begas nicht mehr ein: Seine Schiller-Büste ist von „visionärer Entrückheit“, „der Dicher scheint einer inneren Eingebung zu lauschen„; mit der Thronbesteigung WilhelmsII. gelangt der Neubarock zum endgültigen Durchbruch. Die pathetisch überhöhte Formensprache dieser Spielart des Historismus wurde zum Standart der kaiserlichen Repräsentation. Nicht zu unterschätzen und leider in der Ausstellung überhaupt nicht erläutert ist die Rolle, die die industrielle Fertigung bei der Ausformung des Stils spielte: Ein Werk wie der Neptunbrunnen am Alexanderplatz erzählt neben seiner manieristischen Verspieltheit vor allem von der Kompliziertheit des Bronzegusses. Technische Artistik war gefragt, weshalb der Name der Bronzegießerei gelegentlich größer eingraviert wurde als der des entwerfenden Künstlers.

Die unter den Begas-Schülern sich formierende Opposition gegen den Staatsstil mündete dann zu Beginn dieses Jahrhunderts in eine Reduktion von Form und Inhalt, in einen Ansatz von Sachlichkeit. Die „Amazone“ von Louis Tuaillon (1895) ist eine schlichte, statische Ausführung eines auf einem Pferd sitzenden Mädchens, das eher bieder, wenn auch kräftig, jedenfalls nicht männermordend wirkt.

Die Ablösung der Teile in diesen 100 Jahren Skulpturgeschichte ist in der Ausstellung indes kaum kenntlich gemacht. Ohne die begleitenden Einzelblätter erfährt man aus den Bildunterschriften neben Angabe des mythologischen Motivs und dem heutigen Standort in Berlin fast nichts, ein methodisches Vorgehen fehlt. Der funktionale Zusammenhang der Erzeugnisse mit den politischen Begleitumständen wird nur in der Ton-Dia-Show angerissen. Die in der Vorbereitungsphase noch nicht zustande gekommene Zusammenarbeit mit den Ostberliner Museen hätte durch ein Faltblatt wettgemacht werden können, das dem willigen Besucher angezeigt hätte, wo die Originalkunstwerke in Ost -Berlin zu besichtigen sind. Völlig unverständlich ist, warum man den Katalog als alphabetisches Nachschlagwerk für Bildhauernamen angelegt und einen historischen Teil nicht wenigstens vorangesetzt hat. „Ethos und Pathos“: Die Spannweite zwischen Aufklärung und nationalistischer Emotion ist in der Ausstellung nicht auf das Maß des Verständlichen gebracht, keine wie auch immer geartete Wertung wird sichtbar, so daß für den Unkundigen das Zusammengetragene weiterhin ein beliebiges Sammelsurium bleibt, das pathetisch an Rezeption appelliert und doch in Zeiten revolutionärer Veränderung ein ausstellungsbegründenden Ethos vermissen läßt und nur einen Zitatenhunger genügen zu wollen scheint.

Michaela Ott

„Ethos und Pathos“, bis 29.Juli 1990 im Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50, täglich geöffnet von 10-18 Uhr, mittwochs von 10-22 Uhr. Kulturhistorische Rundgänge und Fahrten: Sa, 9.6., 14-17 Uhr: Brunnen und Brücken; So, 10.6., 15-18 Uhr: Friedhöfe am Halleschen Tor, 11-14 Uhr: Schloßpark Charlottenburg; Sa, 16.6., 14-17 Uhr: Denkmäler des 19.Jahrhunderts; So, 17.6., 11-14 Uhr: St.-Matthäus -Kirchhof, 14-17 Uhr: Plastik im Stadtbild, 15-18 Uhr: Plastik in Ost-Berlin; und wieder von vorne.