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Ein Denkmal für Lieselotte

■ Eine deutsch-deutsche Nachkriegsposse

Lene Reckenfelder

Vierzehn Jahre lang kam sie alle zwei Wochen aus Berlin -Mitte über Friedrichstraße nach West-Berlin.

Meist hatte sie wenig Zeit, und wir blieben gleich in der Küche sitzen, bei Schonkaffee von Plus und Club-Zigaretten. Wir erzählten uns DDR-Witze und schimpften eine Runde über alles. Lieselotte ist eine der unzähligen DDR-Rentnerinnen, die mit ihren Einkäufen - von Aldi zu Plus, dann zum Euro -Markt und mal eben nach Bilka und Woolworth - die Versorgung der DDR mit „WtB - Waren des täglichen Bedarfs“ aufrechterhalten. Ohne sie (und dann und wann ein Mann), die die DDR seit 1973 für dreißig Tage übers Jahr verteilt verlassen durften, wäre die Wirtschaft der DDR schon viel früher zusammengebrochen. Die hundert Mark West Begrüßungsgeld bedeuteten Orangensaft von A&P, Waschpulver von Aldi, Zahnpasta, Schokolade und das gute Toilettenpapier, acht Rollen zu 2,98 DM.

Lieselotte kam immer mit zwei großen Einkaufstaschen und mehreren Falttaschen; diesen Falttaschen aus Dederon mit dem zeitlosen Fünfzigerjahre-Muster, die das Werkbunbdarchiv in einer Ausstellung über die achtziger Jahre an die Wäscheleine hängen wird. Ich hatte Lieselotte einen Wohnungsschlüssel gegeben, damit sie die Tasche abstellen und sich mal ausruhen konnte. Während sie ihre Zollzettel ausfüllte, erzählte sie von ihrer Arbeit als Aufsicht im Museum, wodurch sie sich etwas dazuverdiente, denn ihre Rente reichte zum Leben, aber nicht für eine neue Garnitur Bettwäsche oder gar für einen Fernseher.

Eines Tages sagte ich beiläufig: „Ich werfe die 'Spiegel‘ weg, und Heinrich wäre froh, wenn er sie lesen könnte.“ Ich hatte ihren Sohn ein paarmal in Ost-Berlin gesehen, er hatte mich nie beeindruckt. Aber was tut eine Mutter nicht alles für ihr Kind.

Als sie das nächste Mal kam, hatte sie bereits alles genau überlegt und mit DDR-Zeitschriften ausprobiert. Sie steckte sich den 'Spiegel‘ ins Korsett, Sicherheitsnadeln sorgten für den absoluten Sitz. Die Prozedur im Badezimmer dauerte lange, dann mußte ich begutachten, ob sich nicht eine Ecke oder Kante durch das Kleid durchdrückte. Das Kleid saß locker über ihrem kräftigen Körper, und wir wurden ziemlich albern.

Sie war schon längst weg, als ich merkte, daß ich Angst hatte.

Beim nächsten Besuch redeten wir nicht darüber. Ich fragte sie nicht nach ihrer Angst. Ich sagte nur, daß ich den Spiegel noch nicht ausgelesen hätte, und spürte ihre Erleichterung. Sie hatte mir ein Päckchen Würstchen mitgebracht, weil es mal wieder keine Blumen gab.

Lieselotte mußte wieder wahnsinnig viel einkaufen, und wir dachten uns aus, wie es wäre, wenn alle DDR-Rentnerinnen streiken würden. Sie würden am Wannsee Schwäne füttern, sich mit den zusammenklappbaren Sitzkissen im Botanischen Garten erholen, sie würden im Zoo und im KaDeWe spazierengehen. Aber sie würden nicht einkaufen. Im Euro-Markt würden Bananen und Apfelsinen verfaulen, bei Aldi würden sich Tandil und Papierwindeln stapeln, und Rudis Reste Rampe bliebe auf seinen Küchenmessern sitzen. „Und der Sohn kriegt kein Rasierwasser, die Enkel greinen nach Gummibärchen, und die Schwiegertochter muß das DDR-Toilettenpapier benutzen.“

Das Korsett als Transportmittel begann sich zu bewähren. Jetzt kam schon gelegentlich Post an meine Adresse mit politischen Zeitschriften oder einem korsettgerechten Taschenbuch. Für sich selbst nahm Lieselotte immer die kostenlose Apothekerzeitung mit dem vierzehntägigen Fernsehprogramm mit und für ihre Kolleginnen den Quellekatalog in Einzellagen. Manchmal sah Lieselotte etwas viereckig aus, und ich klopfte die Zeitschriften an ihrem Körper zurecht. Sie trug immer - bei jedem Wetter - einen weiten Staubmantel, der sich auch bei den Türkinnen als so figurverkleidend bewährt.

Lieselotte redete nicht über ihre Angst. Aber ich vergaß immer öfter, den 'Spiegel‘ zu kaufen. Das war kein guter Trick, die fehlenden Nummern wurden von anderen Leuten zu mir gebracht, und ich mußte sie in Lieselottes Fach legen.

Besonders im Sommer war Lieselotte so beängstigend müde, und ich dachte voller Schrecken, was passierte, wenn sie an der Grenze ohnmächtig werden würde. Mein Hausarzt empfahl eine Tablette mit einer leicht kreislaufanregenden Wirkung. Lieselotte nahm sie dankbar und gläubig an. Die Wirkung war phantastisch, Lieselotte wurde sofort munter und mutig, und ihre Berliner Hinterhofschnauze brachte mich zum Lachen.

Ich hatte schon öfter den Versuch gemacht, den 'Spiegel' -Transport zu stoppen, aber ich spürte ihre Befürchtung, für ihren Sohn dann nicht mehr so wichtig zu sein. Auch mit Heinrich versuchte ich darüber zu reden, aber er reagierte nicht. Er war schon längst spiegelsüchtig geworden und bildete sich ein, durch diese regelmäßige Lektüre den vollen Informationsstand des Westens zu haben. Als ich darüber sinnierte, daß Lieselotte noch nie gefilzt worden war, meinte er halb scherzend: „Vielleicht hat ja die Partei noch Großes mit mir vor.“

Lieselotte kennt die Preise aller DDR-relevanten Verbrauchsgüter. Einmal erzählte sie mir von ihrem Verdacht, daß am Bahnhof Zoo Rentnerinnen als Spitzel einsteigen und die alten Leute über ihre Einkäufe ausfragten, um dem DDR -Zoll Hinweise zu geben. Viele Waren, besonders Elektroartikel, waren ja zollpflichtig. Lieselotte hatte ein trauriges Verständnis für diese Spitzel, sie weiß ja, wie schwierig es ist, von einer Rente zu leben.

Ich gab Lieselotte inzwischen Tabletten, damit sie ihre Arbeit als Aufsicht schaffte. Sie teilte sich die Wunderpillen immer gut ein; einteilen hatte sie ja ihr ganzes Leben gemußt. Hatte ich keinen 'Spiegel‘ für sie, nahm sie auch keine Pille.

Allmählich zeigte es sich, daß das Korsett durch den Spiegeltransport litt. Das Gewebe leierte aus, und die harten Ecken der Zeitschriften bohrten Löcher in den Gummistoff. Eine Zeitlang konnte sie die Stellen mit Pflaster kleben. Aber schließlich mußte sie sich ein neues Korsett kaufen. Korsetts sind teuer. Lieselotte hat eine Rente von 380 Mark, und für ihre Arbeit bekommt sie 2,10 Mark die Stunde. Ihrem Sohn konnte sie nichts davon erzählen, der interessiert sich nicht für Korsetts. Lieselotte war früher einmal Sekretärin bei der Industrie gewesen, und 1951 ist sie in die SED eingetreten, um einen Bezugsschein für Schuhe für Heinrich zu kriegen. Als Ende 1988 die alten Parteibücher gegen neue ausgetauscht werden sollten, hatte sie wochenlang Angst, denn sie hatte der Partei ihren Zusatzverdienst verschwiegen. Lieselotte braucht jede Mark.

Ihr Sohn hat wie so viele DDRler ihrendeine Westgeldquelle, und so jagte Lieselotte durch die Geschäfte, jahrein, jahraus. Wenn ich von einer Reise nach Haus kam, sah ich an den Sicherheitsnadeln auf dem Badezimmerfußboden, daß Lieselotte dagewesen war. Mit 'Spiegeln‘ im Korsett kann man sich nicht bücken, und in all den Jahren hat es in der DDR nie einen Sicherheitsnadelversorgungsengpaß gegeben.

Einmal, als sie wieder eine besonders lange Einkaufsliste hatte, sogar einen Tischstaubsauer sollte sie besorgen, stellten wir uns vor, daß mal dereinst ein Doppeldenkmal aufgestellt werden würde: das Denkmal der unbekannten DDR -Rentnerin. Die Bronzefigur würde eine müde, alte Frau darstellen in breit ausgetretenen Schuhen aus Plaste und Elaste, links und rechts mit riesigen Einkaufstaschen. Ein Denkmal würde am Bahnhof Zoo stehen - mit leeren Taschen und eins am Bahnhof Friedrichstraße - mit übervollen Taschen. Daß es einmal keine Mauer mehr geben würde, stellten wir uns nicht vor.

Lieselotte gehört zu der Generation, die die ungute deutsche Geschichte am längsten ertragen muß und an ihr am schwersten zu tragen hat. Jetzt tragen sie Ananas in Dosen, Pfirsische in Dosen, mal ein Töpfchen Müllers Milchreis und natürlich Bananen. Als ich mal über Friedrichstraße nach Ost -Berlin fuhr, sah ich die vielen gebückten, schwer schleppenden alten Leute die langen Bahnsteige entlang und die vielen Treppen rauf- und runtergehen. Die Nachkriegszeit ist noch lange nicht zu Ende.

Ich sah Lieselotte in den vielen Jahren so oft, daß ich gar nicht richtig merkte, wie klein und knittrig sie geworden war. Die grauhaarige Perücke saß wie eine dicke Mütze auf ihrem kleinen Kopf. Nach ihrem achtzigsten Geburtstag gab ich mir einen Ruck und sagte ihr, daß der größte Teil der Menschheit ohne 'Spiegel‘ lebt, und Heinrich soll's jetzt auch. Da weinte sie ein bißchen. Ich erklärte und schimpfte und bettelte, und als ich sagte, daß sie nun kein neues Korsett mehr brauche, lachte sie wieder.

Fünf Monate später war die Mauer offen.

Jetzt kommt Lieselotte nur noch selten. Sie geht lieber über Bernauer Straße nach Gesundbrunnen einkaufen, und im Sommer will sie sich im Humboldhain ausruhen. Als sie das erste Mal nach dem 9.November bei mir war, sagte ich, Heinrich könne sich die 'Spiegel‘ jetzt selber abholen.

Er hat es natürlich nie getan.

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