„Die Geschichte ist auf unserer Seite“

■ Mitglieder des US-Kongresses auf Europa-Tournee erstaunt über deutsche Sachlichkeit

„Besuchen Sie Europa, solange es noch steht!“ Die Parole stammt aus den 80ern, zu Hochzeiten nuklearer Aufrüstung und intensiver Friedensbewegung. Heute, so denkt man, müßte eigentlich letztere die Früchte ihrer Arbeit einfahren. Aber so einfach ist das wohl nicht. The winner takes it all, sagt man. Nur, wer ist der Sieger? Was dieser Tage zu Besuch besonders in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR und anderen osteuropäischen Ländern eintrifft, sind ganze Truppen US-amerikanischer Kongreßabgeordneter, Mitglieder des State Department, Historiker, Politologen, aber auch Angehörige diverser deutsch-amerikanischer Freundschafts -Klubs und transatlantischer Verbände. Ihr Motto könnte sein: „Laßt uns die Europäer und besonders die Deutschen besuchen, bevor die auf dumme Gedanken kommen.“

Zuerst wandern sie durch das Nadelöhr Bonn, wo offenbar Kanzler Kohl und Außenminister Genscher von morgens bis abends empfangen, speisen und alte Freundschaften beschwören. Und dennoch. Schon hier versetzt sie ins Staunen, wie kühl die Deutschen manchmal die Vereinigung angehen und wieviele von ihnen laut über veränderte Sicherheitsstrukturen in Europa nachdenken. Da stimmt doch was nicht. Oft reisen sie weiter zur Mauerstadt, weil dort vielleicht doch mehr der „Geist der Freiheit und Demokratie“ zu spüren ist. Sie - das ist in diesem Fall eine vierköpfige Delegation von Kongreß-Abgeordneten, die Mitglieder einer 90köpfigen „Studiengruppe des Kongresses zu Deutschland“ sind. Bezahlt wird alles vom Marshall-Fund. Die Gruppe war in München, Bonn, am vergangenen Wochenende in Berlin (Ost und West) und wollte danach Budapest wie auch Prag besuchen.

„Wissen Sie“, sagt Daniel Price aus North Carolina und Vorsitzender der Gruppe aus Repräsentantenhausmitgliedern, „als Amerikaner bin ich natürlich befriedigt darüber, daß die Ideale meines Landes wie nie zuvor rund um die Welt akzeptiert werden, ja daß dies eine Inspiration für eine Art Weltrevolution ist. Aber“, so fügt er hinzu, „auch die Menschen in Osteuropa sind Gewinner der Veränderungen.“

Darin zumindest sind sich Daniel Price, Jim Slattery (Kansas), Thomas Petri (Wisconsin) und L.F. Payne (Virgina) mit der versammelten Gruppe aus JournalistInnen und Politikwissenschaftlern einig: Die internationale politische Situation hat sich nachhaltig geändert, und der Kalte Krieg ist beendet. Die vier sind politisch an einer drastischen Reduzierung der heimischen Militärausgaben interessiert, um damit nicht nur das Budgetdefizit zu stopfen, sondern auch die gesellschaftspolitische Krise zu überwinden. „Zehn Jahre wurden diese Bereiche extrem vernachlässigt“, so Jim Price. Sind also nicht beide Systeme, auch der US-Kapitalismus, aufgrund des Wettrüstens in der Krise? Ja, auch die USA hätten Probleme, wenn sie auch nicht so hoffnungslos und desperat seien wie die der Sowjetunion, gibt Price zögernd zu.

Das ist denn aber auch schon das höchste selbstkritischer Gefühle. Im Spannungsfeld vermeintlicher Verbündeter wird bei Kaffee und Orangensaft die einfachste Frage zu einem Drahtseilakt, zu einer unziemlichen Kritik der Deutschen am selbstlosen Bündnispartner USA. Die Deutschen, so der Ton, der die Musik macht, sollten erst mal zufrieden sein über ihre Vereinigung. Wie, so fragt ein Wissenschaftler dennoch, wollen die USA denn ihre weiterhin proklamierte Weltmachtrolle aufrechterhalten, ohne entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen? Und wieso halten sich die USA nicht an Vaclav Havels Appell vor dem Kongreß: „Wenn Sie uns helfen wollen, helfen Sie Gorbatschow!“ Das, so Jim Slattery, sei noch viel zu früh. Bevor man in Osteuropa und auch in die Sowjetunion offizielle Finanzhilfe wie in ein Faß ohne Boden stecke, müsse noch viel mehr garantiert sein, damit es auch wirklich zur freien Entfaltung marktwirtschaftlicher Kräfte komme. Dem „noch nicht ganz ehemaligen“ Feind helfen? Nein.

„40 Jahre lang haben wir die Rechnung bezahlt. Jetzt seid ihr an der Reihe“, so Jim Slattery im weiteren Gespräch. Er meint Lastenteilung. Wie hoch die Last wird, sagt er nicht. Entlang der sicherheitspolitischen Linie entfaltet sich am deutlichsten deutsch-amerikanischer Dissens. „Nato“ klingt so schön aus amerikanischem Mund. Das können sich auch Leute in Kansas merken, genau wie „Freiheit“, „Demokratie“ und „Litauen“. Aber wer in den USA kennt schon KSZE? Also, warum soll man in Zeiten der „Unsicherheit und Instabilität“ so eine schöne Sache wie die Nato aufgeben? Außerdem bleibe die sowjetische militärische Bedrohung nun mal eine Grundtatsache. „Laßt uns also noch einige Jahre warten und alles ganz langsam angehen“, bittet Slattery. „Die Geschichte ist sowieso auf unserer Seite.“ KSZE und Nato, so Thomas Petri, seien jedenfalls nicht „austauschbar“. Zu behaupten, eines wachse ins andere, verursache blanke Konfusion. „Wie sagte Kissinger einmal so schön: wenn alle miteinander verbündet sind, ist niemand verbündet“. Auf deutscher Seite überwiegt das Bedauern über diesen Mangel an visionärer Kraft. Aus Bonn wird die Aussage eines US -Experten kolportiert: „Die Deutschen problematisieren von früh bis spät. Aber das ist offenbar die Grundlage ihrer Leistungsfähigkeit.“

Andrea Seibel