:
■ D I E A N D E R E N
DDR-Pressestimmen zum
Washingtoner Gipfel:
Neue Zeit
Die in Ost-Berlin erscheinende Zeitung resümiert:
Gewiß, eine Antwort auf die ebenso bedeutsame wie sensible Frage der militärischen Einbindung eines vereinten Deutschlands blieb offen, wurde als Aufgabe für die Vier -plus-zwei-Verhandlungen und das Kopenhagener Außenministertreffen vertagt (Gorbatschow) beziehungsweise als „Sache der Deutschen selbst“ (Bush, von Gorbatschow bestätigt) bezeichnet. Daß sie nicht zur Gretchenfrage für weitere Vertrauensbildung oder Gesprächsbereitschaft hochstilisiert wurde, spricht sowohl für den Geist solcher Begegnungen auf höchster Ebene als auch für ein gerüttelt Maß an Nüchternheit und Pragmatismus beider Staatsmänner angesichts ihrer gemeinsamen Verantwortung vor den Problemen in der Welt. Und es unterstreicht das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen. Wenn sich Gorbatschow und Bush dennoch darin einig waren, daß alles, was in Europa geschieht, eine Angelegenheit von strategischer Bedeutung ist, und Deutschland dabei gegenwärtig eine besonders wichtige Rolle spielt, so resümiert das ihre Offerten, die sie sich zwecks gegenseitiger Annäherung machten. Die eigentlichen substantiellen Ergebnisse (des Gipfels) liegen zweifellos auf dem Gebiet weiterer Abrüstung und der Vertiefung des Vertrauensverhältnisses zwischen den Großmächten, wie es im Handelsabkommen und in weiteren Verträgen zum Ausbau der Kontakte zum Ausdruck kommt.
Neues Deutschland
Die PDS-Zeitung schreibt:
Mit der Unterzeichnung von mehr als einem Dutzend Abkommen und Vereinbarungen war der jüngste amerikanisch-sowjetische Gipfel ertragreicher als alle seine Vorgänger. Die Präsidenten Bush und Gorbatschow, die vor reichlich einem halben Jahr vor Malta die Beendigung des kalten Krieges erklärt hatten, demonstrierten ihren Willen, das Verhältnis zwischen den beiden Großmächten tatsächlich auf eine neue Grundlage zu stellen. Das jahrzehntelang dominierende Bestreben, Blößen des Rivalen auszunutzen, um eigene Vorteile zu gewinnen, weicht zunehmend einem neuen Verständnis von gemeinsamer Sicherheit. Im Disput um Deutschland, der alle anderen Themen überlagerte, wurde die Zauberformel für die Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands nicht gefunden, jedoch zeichnet sich Bewegung der verhärteten Standpunkte ab. Ein möglicher Lösungsansatz könnte in dem von Gorbatschow vorgeschlagenen „Gesamteuropäischen Rat“ liegen, der unter direkter Beteiligung der USA über die militärischen Aspekte der deutschen Einheit verhandeln soll. Den Spielraum zwischen der sowjetischen Optik und der amerikanischen Version auszufüllen, verlangt politische Phantasie. Zuerst und vor allem von den unmittelbar Betroffenen, den beiden deutschen Regierungen.
Thüringer Allgemeine
Das Erfurter Blatt meint:
Es war wohl eher der Wunsch der Vater des Gedanken, denn nüchterne Analyse in Washington würden bereits am Wochenende die restlichen Steine auf den Weg zur deutschen Einheit geräumt. Vielleicht war es auch die Hoffnung, Gorbatschow könnte einmal mehr die Welt mit einer unerwarteten und dennoch überzeugenden Lösung überraschen. Auch wenn die Äußerungen des sowjetischen Präsidenten von der Weisheit getragen wurden, man solle nie nie sagen, blieben dennoch die Positionen unverändert starr. Ein, wie es den USA und der Nato vorschwebt, geeintes Deutschland als Vollmitglied des Nordatlantikpaktes scheint für die Sowjetunion weiterhin unakzeptabel. Ob es tatsächlich die Angst um die spürbare Kräfteverschiebung zugunsten des Westens war (und da stellt sich die Frage, was überhaupt heute noch der Osten ist), oder eher die Befürchtung, in Moskau würden die Gegner des Reformers endgültig zum Halali auf die Perestroika blasen, bleibt offen. Tatsache ist: Die Ausgestaltung des äußeren Rahmens der Vereinigung hält mit der inneren Dynamik des Prozesses nicht Schritt. Es wächst die Sorge, Turbulenzen des sich anbahnenden Zerfalls der Sowjetunion könnten bei weiterem Zeitverzug unmittelbar auf den Einigungsprozeß negativ Einfluß nehmen. Auch wenn es vor der Geschichte als zu kurzsichtig erscheinen mag, die wichtigen Abrüstungsimpulse des Gipfels als zweitrangig einzuordnen, der eigentliche Sprengstoff in den internationalen Beziehungen liegt heute auf einem anderen Gebiet.
Junge Welt
Das ehemalige FDJ-Organ kommentiert:
Viele andere wichtige Themen wurden zwangsläufig an den Rand gedrückt. Alle reden von Deutschland, auch die Präsidenten. Nato oder nicht Nato?, das war die Frage. Näher ist man der Antwort nicht gekommen. Man blieb in der Sache hart, bekundete indes Verständnis für die Interessen des anderen. Gorbatschow drängt auf ein Deutschland, das in eine neue europäische Sicherheitsstruktur eingebunden ist. Das wäre die vernünftigste Lösung. Die Chancen für ihre Verwirklichung stehen allerdings schlecht, hat sich der Westen doch augenscheinlich in die Idee eines Nato -Deutschland verbissen. Immerhin signalisiert Washingtons 9 -Punkte-Plan Entgegenkommen. Übergangsregelungen für die Sowjettruppen auf DDR-Gebiet, finanzielle Regelungen mit Bonn für deren Aufenthalt und Rückkehr, Verzicht auf Nato -Truppen hier und anderes sollen es Moskau möglich machen, die Kröte zu schlucken. Ein Hintertürchen hat sich Gorbatschow ja offengehalten mit seiner Aussage, daß letztlich die Deutschen über ihre Zukunft zu entscheiden hätten. Fakt ist, auch wenn die Sowjetunion derzeit in einer schwachen Position zu sein scheint - eine Lösung ohne oder gegen sie kann es nicht geben.
Tribüne
Unter der Überschrift Gipfel und Abstieg heißt es in der 'Zeitung des Gewerkschafters‘:
Es fällt schwer, bei diesem sechsten Gipfel UdSSR-USA seit Genf 1985 ein wirklich herausragendes Ereignis zu entdecken. Halbherzig blieb er in Sachen strategischer und chemischer Abrüstung. Kontrovers, was die heftig umstrittene Nato -Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands angeht. Unerfüllt speziell einige Moskauer Wünsche für ein unterzeichnetes Handelsabkommen. Ungetrübt wenigstens die Atmosphäre der Begegnung. Bleibt also die Feststellung, daß in Washington das letzte Kapitel des „Kalten Krieges“ zugeschlagen wurde. ohne Zweifel war der Gipfel schon deshalb ein Erfolg. Aber zugleich der erste Gipfel eines neuen Abschnitts der Weltpolitik war er wohl nicht. Aus den beiden entscheidenden Siegermächten des zweiten Weltkrieges waren die Supermächte der Nachkriegsentwicklung geworden. Ihre Gegensätze führten in die Epoche des „Kalten Krieges“. Mit dem Ende der Nachkriegsentwicklung und des „Kalten Krieges“ verliert somit auch die Theorie einer von den Supermächten bestimmten Weltpolitik den historisch begründeten Anspruch wie ihre aktuelle Existenzberechtigung. Washington hinterließ insgesamt nicht zuletzt den Eindruck, als beginne nach diesem Gipfel für die Beteiligten ein Abstieg, der Abschied aus der Ära zweier Supermächte, ihrer jahrzehntelang unangefochtenen militärischen, politischen und ökonomischen Hegemonie. Sie geht - sicher nicht schon heute oder morgen - unaufhaltsam ihrem Ende zu. Möglicherweise war es bereits dieses Gefühl, das die - trotz aller Meinungsverschiedenheiten - besonders vertraute Atmosphäre zwischen Gorbatschow und Bush herstellte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen