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„Schlupflöcher der Ethik“

Zu den Euthanasie-Thesen des Australiers Peter Singer und zur Konfrontation zwischen Philosophischem Institut der FU Berlin und Gruppen von Behinderten  ■  D E B A T T E

Eine kleine Berliner Öffentlichkeit beobachtet zur Zeit neugierig, vielleicht auch beklommen, die Konfrontation zwischen Philosophischem Institut der FU und Gruppen von Behinderten, die das Seminar über Praktische Ethik von Beate Rössler, in dem auch über Euthanasie diskutiert werden sollte, gesprengt haben. Man möchte gerne wissen, wie sich die Verhinderung des Seminars auf unsere Köpfe auswirkt. Natürlich so verschieden, wie wir verschiene Köpfe haben. Ich spreche im folgenden nur für meinen eigenen (aber manche anderen denken ähnlich).

Es scheint mir nützlich, die Sprengung dieses Seminars mit einer Ohrfeige zu vergleichen, auch um sie von anderen Formen von Seminarbehinderungen zu unterscheiden. Jedenfalls habe ich sie wie eine Ohrfeige erlebt. Die erste Reaktion auf eine Ohrfeige ist Empörung, so ging es auch mir in diesem Fall. Die zweite kann (muß nicht) Ernüchterung sein. Und es ist diese Ernüchterung, die von der anderen Seite bezweckt wird. Eine Ohrfeige ist als symoblischer Gewaltakt ein äußerstes, immer moralisches Kommunikationsmittel, gewöhnlich aus unterlegener Position, ein Aufschrei gewissermaßen: „Siehst du denn nicht, seht ihr denn nicht, wie ihr unsere Interessen, unsere Rechte mit Füßen tretet?“

Moral besteht zu einem guten Teil in der Einübung der Übernahme der Standpunkte der anderen. Die in den letzten Jahren aufgekommene philosophische Diskussion über Euthanasie (auch in meiner eigenen Vorlesung) hat es daran bisher in - nachträglich gesehen - verblüffendem Ausmaß fehlen lassen. Als ich mir jetzt die „Erklärung Berliner Philosophen“ (zu einer Seminarstörung in Duisburg), die ich mitunterschrieben habe, wieder ansah, konnte ich sie nur mit Kopfschütteln lesen. Kein Wort des Verständnisses für die Betroffenheit der Behinderten. Einseitig haben wir damals die Fahne der ungestörten Rede- und Diskussionsfreiheit hochgehalten.

Es ist zweifellos wahr, daß die Institution der Universität und vieles mehr auf diesem Recht gründet. Aber gilt es absolut? Angenommen, an einem Institut würde ein Seminar über die Nürnberger Rassengesetze angekündigt, und zwar nicht zu ihrer historischen Analyse, sondern zu ihrer normativen Überprüfung: um zu klären, welche Teile davon erneut oder welche Verschärfungen für gut zu befinden seien. Würden sich nicht viele von uns den Störern anschließen?

Ist der Vergleich ganz abwegig? Aus der Perspektive der Behinderten gewiß nicht. Sie fühlen sich durch die Euthanasie-Diskussion in ihrer Existenz bedroht. „Aber doch zu Unrecht!“, sagen manche. Darauf ist zweierlei zu antworten: Erstens, selbst wenn es zu Unrecht wäre, müßten wir respektieren, daß sie sich bedroht fühlen. Zweitens, besteht dieses Gefühl wirklich zu Unrecht? „Wenn künftig Säuglinge, die so und so beschaffen sind, getötet würden, würden wir, wenn wir schon unter diese Regelung gefallen wären, nicht existieren.“

„Aber solche Regelungen fassen wir doch überhaupt nicht ins Auge!“ Auch das stimmt nicht ganz, wenn man die Euthanasie -Diskussion in der deutschen Philosophie im Ganzen betrachtet. Allemal werden solche Regelungen von Singer ins Auge gefaßt, dessen Buch in den meisten Seminaren zu diesem Thema berücksichtigt wird.

Wenn also die Dinge so stehen, wenn wir feststellen müssen, daß wir eine ohnehin diskriminierte Minderheit mit der Diskussion solcher Fragen bedrohen, wäre es dann nicht richtiger, diese Thematik künftig aus unseren Lehrveranstaltungen wegzulassen?

Hier stößt man jedoch auf eine entgegengesetzte Erwägung. Wir können diese Thematik nämlich nicht weglassen - nicht aus Gründen einer abstrakten Wissenschaftsfreiheit, sondern weil dem philosophischen Interesse an der Euthanasie -Problematik ein wichtiges praktisches Problem zugrundeliegt, das in unserer Gesellschaft schlecht gelöst ist: Ich meine das Problem der unheilbaren und schwerleidenden Menschen, und hier besonders der Säuglinge und anderer Personen, die ihren Willen nicht äußern können.

Die Tötung scheint in vielen Fällen das einzige zu sein, was im Interesse des Kindes ist, aber der Arzt darf das nicht tun, weil unsere Rechtssprechung, die sich auf ganz bestimmte und heute keineswegs mehr selbstverständliche ethische Vorstellungen stützt, das verbietet. Deswegen wird in vielen Fällen die sog. passive Euthanasie praktiziert, d.h. Sterbenlassen durch Nichttun, zum Beispiel durch Verhungernlassen, was gegenüber der aktiven Tötung nur ein Plus an Grausamkeit bedeutet.

Eine antiquierte Handlungstheorie stützt die Auffassung, Unterlassen sei etwas wesentlich anderes als Tun: Wenn man den Stecker des Sauerstoffgeräts herauszieht, tötet man; wenn man sieht, wie er herausfällt und nichts dagegen tut, tötet man nicht. Das sind die Schlupflöcher einer überrigiden und nicht vom Menschen her gedachten Ethik.

Also, hier scheint ein erheblicher Handlungsbedarf und das heißt Klärungs- und Diskussionsbedarf zu bestehen. Man wird mir jedoch widersprechen. Ein Einwand lautet, man dürfe nie bei Personen, die sich nicht äußern können, über ihr Leben entscheiden. Aber warum nicht? Und gibt es nicht sehr starke Gründe für die gegenteilige Auffassung aus der Perspektive der Person selbst, wenn bestimmte extreme Bedingungen gegeben sind?

Ferner wird man mir entgegenhalten, daß es keine scharfen Grenzen gibt zwischen den Fällen, die hoffnungslos sind, und denen, die es nicht sind. Aber dürfen wir wirklich, nur weil es keine scharfe Grenze gibt, die Frage einseitig zugunsten der einen Seite entscheiden und die andere ihrem Unglück überlassen?

Es kann hier nicht darum gehen, für eine bestimmte Beantwortung all dieser Fragen zu werben. Ich möchte nur deutlich machen, daß es lebenswichtige Fragen sind, die geklärt und also diskutiert werden müssen, und zwar dringlich. Daß diese Fragen den Ausgangspunkt der Euthanasie -Diskussion in den philosophischen Lehrveranstaltungen darstellen, zeigt, warum obiger Vergleich eines solchen Seminars mit einem über die Nürnberger Rassengesetze eben doch abwegig ist. Denn: Ihre Diskussion ist zwar - beim jetzigen Status quo - im negativen Interesse der Behinderten, sie ist aber zugleich im positiven Interesse aller. Wir alle müssen daran interessiert sein, daß unser eigenes Kind, wenn ihm denn ein solches Schicksal widerfährt, nicht unmenschlich behandelt wird. (Und was hier „unmenschlich“ heißt, das dekretiere nicht ich, es soll aber auch nicht von anderen dekretiert werden dürfen.) Deswegen eben sind wir hier alle auf eine gemeinsame Klärung angewiesen.

Weil es aber nicht jene scharfe Grenze gibt, sondern einen breiten grauen Streifen der Ungewißheit, läßt sich auch nicht eine gute Euthanasie von der bösen säuberlich trennen, und das heißt: Auch die Beschränkung auf die engsten und ethisch notwendigen Euthanasie-Fragen, auf die wir nicht verzichten wollten, wird bei den Behinderten Bedrohungsgefühle hervorrufen. Daraus ergibt sich ein moralisches Dilemma, das jedoch gemildert werden würde, wenn es uns, den über diese Fragen Philosophierenden, gelänge, die Behinderten wirklich miteinzubeziehen. Doch werden wir es ihnen überlassen müssen, ob sie sich einbeziehen lassen wollen.

Ernst Tugendhat In der morgigen Ausgabe antwortet

Götz Aly auf diesen Beitrag.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin.

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