Schlesien liegt westlich der Neiße

Görlitz stirbt einen langsamen Tod / In der Grenzstadt erwachen Träume von Schlesien und antipolnische Ressentiments / Niederschlesier wollen keine Sachsen sein / Kampf um Waren als Auslöser für Polenfeindlichkeit an der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“  ■  Aus Görlitz Klaus Hillenbrand

Die Görlitzer Büttnerstraße ist ausgestorben, die Scheiben der mittelalterlichen Häuser sind eingeschlagen und die Gebäude wegen Einsturzgefahr gesperrt. Oberhalb des alten Nikolaiturms sperrt ein baufälliger Bretterzaun den Zugang zur Rosenstraße. Was von den Häusern neben dem groben Kopfsteinpflaster noch übrig ist, kann jederzeit zusammenbrechen. In den Straßen der Vorstadt droht den baufälligen Balkons der Absturz. Die langen Straßenzüge mit ihren Häusern aus der Jahrhundertwende haben seit 50 Jahren keine Farbe mehr gesehen. In vielen Gebäuden sind die Scheiben blind. Görlitz, im 2.Weltkrieg von Bomben vollständig verschont, stirbt einen langsamen Tod.

„Sie haben ein Recht auf Wahrung ihrer schlesischen Eigenart. Sie gehören nicht zu Sachsen! Den Schlesiern ein Land Schlesien.“ Das fotokopierte Flugblatt hängt im Schaufenster des Briefmarkengeschäfts in der Berliner Straße. Es hängt auch, mitsamt Noten und Text des „Schlesierliedes“ geschmückt, an der Kneipe in der Nikolaistraße. Die Görlitzer wollen keine Sachsen mehr sein, denen sie nach 1945 zugeschlagen wurden. Sie möchten nicht zum Bezirk Dresden zählen, dem sie seit der Länder-Auflösung 1952 angehören. Sie wollen zu Schlesien. Die Gegend um Görlitz ist der winzige Rest, der nach 1945 auf deutscher Seite von Schlesien übrigblieb. Gelb-weiße Schlesierfahnen hängen von manchen Häusern.

In Görlitz fahren die Straßenbahnen meistens halbleer. In den 50er Jahren hatte die Stadt an der „Oder-Neiße -Friedensgrenze“ (so Pieck und Grothewohl erstmals am 2.November 1949) noch rund 100.000 Einwohner. Heute leben hier noch etwa 76.000 Görlitzer. Allein im letzten Jahr verließen rund 2.000 Menschen die Stadt in Richtung BRD. Andere wanderten in zentralere Regionen der DDR aus. „Es existierten immer Probleme mit der Versorgung und Infrastruktur“, berichtet Steffen Lehmann von der Stadtverwaltung. „Hier gab es die schlechtesten Lebensbedingungen.“ In Görlitz arbeiten vier Prozent der Bevölkerung im Baugewerbe. Der DDR-Durchschnitt liegt bei elf Prozent. Für den Baubereich, so Lehmann, waren der Bezirk Dresden und die ferne Regierung in Berlin verantwortlich. „Der Stadt wurde nur Mitteilung gemacht. Alle Einsprüche hat man abgewiesen.“ Pläne für eine Rekonstruktion der historisch wertvollen Bausubstanz liegen fertig in der Schublade. Aber das Geld fehlt.

Für die Oder-Neiße-Grenze

Jürgen Michel hat all die Jahre das Rübezahllied von Heino nur auf Tonband und zu Hause abgehört. Die Schlesier -Tradition, sagt der beleibte Direktor der Görlitzer Stadthalle, einem 1910 aus Anlaß der Schlesier-Festspiele errichteten potthäßlichen Kasten, sei „völlig unterdrückt worden. Das konnte nur als Familientradition gepflegt werden.“ Jetzt, nach der Wende, war Heino leibhaftig in Michels Stadthalle, hat das „Schlesierlied“ gesungen, und der ganze Saal, jung und alt, hat sich von den Plätzen erhoben. Schlesische Heimatverbände sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Ihre Dachorganisation ist das „Kuratorium Niederschlesien“. Da haben sich (fast) alle zusammengeschlossen, vom aus der SED ausgetretenen Ex -Bürgermeister bis zum neuen Präsidenten der Stadtverordnetenversammlung (CDU). Alle Parteien unterstützen den schlesischen Regionalismus. „Wir sind für den Fortbestand der Grenze zu Polen“, versichert Jürgen Michel. „Ganz Schlesien, das kann man einfach nicht machen. Die Grenze ist inzwischen historisch gewachsen.“

Allerdings: „Manche wollen das nicht wahrhaben. Aber das schadet nur unserer Sache.“ Die Sache des Kuratoriums ist weder ein Verrücken der Grenzen noch ein eigenes Land Schlesien. Als Realisten verlangen sie lediglich einen eigenen Regierungsbezirk Niederschlesien im Land Sachsen. 2.079 Quadratkilometer Schlesien sind wohl ein wenig mickrig für ein ganzes Land, haben sie eingesehen. „Ich habe nichts gegen Sachsen“, so Jürgen Michel. Aber ohne einen eigenen Bezirk wären die Görlitzer weiter wirtschaftlich benachteiligt, glaubt er und erinnert an den Verfall seiner Stadt.

Hinter der Peters-Kirche fließt träge die Neiße. Am gegenüberliegenden Ufer spazieren die Bewohner von Zgorzelec, bis 1945 Ost-Görlitz. An der Grenzbrücke stauen sich die Lkws. Görlitzer und Zgorzelecer dürfen ohne Visum die Neiße überqueren. Besonders die polnischen Nachbarn machen davon häufig Gebrauch. Auch gegen die Polen hat Jürgen Michel nichts. Allerdings bestehen auch kaum Kontakte.

Warenmangel und

Polenfeindlichkeit

„Wenn man rübergeht, muß man vorsichtig sein“, meint Frau Schmidt aus der Thälmannstraße. „Die klauen alles.“ Ihrer Tochter haben Taschendiebe den Reisepaß gestohlen, woraufhin die geplante Italienreise verschoben werden mußte. Das Vorurteil war fertig. Die Polen kaufen alles weg, das ist der Standartsatz der Görlitzer über die Leute vom anderen Ufer. Mit denen von drüben wollen die meisten nichts zu tun haben. Neu ist die Polenfeindlichkeit in Görlitz ebensowenig wie in anderen Regionen der DDR. Nur wird sie jetzt herausgelassen. Ihren realen Hintergrund hat der Fremdenhaß in der Kontingentzuteilung aller Waren. Weil von der Leberwurst bis zum Hosenknopf alle Liefermengen anhand der Einwohnerzahl vorgenommen wurden, der Buttertourismus der armen Nachbarn aber in keinem Plan Eingang fand, herrscht in Görlitz ständiger Mangel. An manchen Tagen kamen neben polnischen auch noch bis zu 80 Omnibusse aus der nahen Tschechoslowakei in die Stadt. „Dann waren die Läden leer“, erinnert sich Steffen Lehmann. Besonders um Wurst und Fleisch geht der Verteilungskampf zwischen Görlitzern und Zgorzelecern. „Die Stadt hat immer unter der offenen Grenze zu leiden gahabt“, meint Jürgen Michel.

Vom 2.Juli an, wenn die Wirtschafts- und Währungsunion mit der BRD in Kraft tritt, wird es mit dem Kampf um Rouladen zwischen Deutschen und Polen zu Ende sein. Doch die antipolnischen Ressentiments dürften kaum aussterben. Viele PolInnen arbeiten seit Jahren in Görlitz. Sie pendeln jeden Tag zwischen zwischen Polen und der DDR hin und her. Wenn die D-Mark da ist, wird die Stadt für sie noch attraktiver sein. Doch ob dann noch genug Arbeit für alle da ist, bleibt abzuwarten. In mehreren Betrieben, darunter bei der Zeiss -Tochter „Pentagon“, gehen Gerüchte von Massenentlassungen um. Noch muß der Direktor des Görlitzer Arbeitsamtes nur 288 Arbeitssuchende im ganzen Kreis führen. Prognosen will er keine aufstellen, aber schlimmer wird es werden, das ist ihm klar. Polen werden in der Statistik schon jetzt nicht gezählt.

„Niederschlesier, kämpft mit uns!“ fordert ein hektographiertes Flugblatt an einer Telefonzelle am Untermarkt. Gezeichnet ist der Zettel mit „Schlesisch -Regionale Befreiungsfront“. Die anonyme Gruppe begann ihren Kampf für ganz Schlesien Anfang des Jahres mit einem offenen Brief an den Bürgermeister. Wer sie eigentlich sind, will in Görlitz niemand so genau wissen. Einige Jugendliche sollen es sein, Fans der „Republikaner“, die gegen die Oder-Neiße -Grenze kämpfen wollen. Jürgen Michel meint immerhin schon ein paar von ihnen bei Heino in der Stadthalle gesehen zu haben, und „die haben sich ordentlich benommen“.

Da sind die Alten, die wieder von Groß-Schlesien träumen. Ein paar Junge, die glauben, die „Heimat“ befreien zu müssen. Das Kuratorium will das alles nicht, nur Klein -Schlesien. Und da sind die neuen alten Haßgefühle gegen „die Polen“. „Die Polenfeindlichkeit liegt nicht daran, daß es bei uns um Schlesien geht“, so Michel. „Es geht um die Aufkäufe, um Schieber. Das erregt die Menschen.“ In Görlitz gibt es keine rassistischen Schmierereien. Die Schlesierfahnen hängen ordentlich von den Häusern. Noch.