: Zur Wahl stehen keine formulierten Alternativen
Ladislaus Hejdanek, Mitbegründer der Charta 77, dem Bürgerforum nahestehend: nach 40 Jahren kommunistischer Herrschaft ist die CSFR politisch und moralisch Wüste ■ I N T E R V I E W
taz: In der CSFR hat sich ein komplettes Parteienspektrum herausgebildet. Was sind das für Organisationen? Wie tief reichen ihre Wurzeln in die Vergangenheit?
Ladislaus Hejdanek: In Wirklichkeit haben wir bis jetzt keine Parteien. Es gibt keine formulierten Alternativen, nichts Programmatisches, das diesen Namen verdienen würde. Wer heute wählt, weiß eigentlich nicht, was er wählt. Von normalen Wahlen kann man deshalb kaum sprechen. Es ist ein erster Schritt zur Normalität. Gerade deshalb ist es notwendig, daß das Bürgerforum existiert und hoffentlich weiter existieren wird. Beispielhaft für das Versagen der neuen Parteien ist die Sozialdemokratische Partei. Sie ist in Böhmen tief verankert, ihre Traditionen sind zum Teil heute noch lebendig, sie verfügt über Beziehungen zu westlichen Parteien, deren Problemhorizont auf der Höhe der Zeit ist. Alles half nichts. Die Partei ist über platte Allgemeinheiten nicht herausgelangt. Keine Lösungswege, kein Aufzeigen der Schwierigkeiten.
Wie kann man das erklären?
Der Stand der politischen Kultur ist beispiellos niedrig. Nach vierzig Jahren kommunistischer Herrschaft gibt es bei uns eine Wüste - moralisch und politisch. Die Fernsehdiskussionen zwischen den Kandidaten waren einfach ein Skandal. Wie kann man so unvorbereitet Funktionen bekleiden? Es war furchtbar. Was heißt unter solchen Voraussetzungen „Parteienpanorama“?
Aus welchen Motiven wird dann die eine oder andere Partei gewählt?
Die Motive sind sehr oberflächlich. Welcher der Wähler zum Beispiel einer christlichen Partei hat eine Vorstellung vom Christentum in der Politik oder vom Christentum überhaupt? Einzig die Brüder Carnogurski in der Slowakei haben in den letzten Tagen eine zugespitzte politische These lanciert: In einem vereinten Europa soll die Slowakei ein selbständiger Staat werden. Dieser Nationalismus ist allerdings mit einer so extremen antikommunistischen Demagogie drapiert, daß es den Leuten schon wieder zu viel wird. Also eine Polarisierung, die sich gegen ihre Urheber wenden wird.
Glauben sie im Ernst, daß die Leute schon genug vom Antikommunismus haben?
Das nicht. Aber auf das Wie kommt's an. Dieses Übermaß an Demagogie ist einfach abschreckend. Die Carnogurskis haben sich zu der These verstiegen, die Hauptgefahr für die Demokratie sei 1968 von den Reformkommunisten ausgegangen. Es wäre den Reformern nach Carnogurski fast gelungen, die kommunistischen Verbrechen zu verschleiern.
Also hatte der Überfall der Sowjetunion August '68 eine wohltuende Wirkung?
Genau das meinen diese Leute. Auch heute sind für sie die ehemaligen Kommunisten die Hauptgegner. Von seiten dieser Christen hört man eine anmaßende und inquisitorische Sprache. Als ob sie bereits das Innenministerium unter Kontrolle hätten.
Hinzu kommt, daß es in unserer aufgewühlten und chaotischen Gesellschaft viele Menschen gibt, die aus dem Gleichgewicht geraten sind und sich extremen Positionen in die Arme werfen. 30.000 Leute haben in Brünn nach dem Blut der ehemaligen Kommunisten gelechzt. Mit diesen Emotionen wird gespielt. Manchmal erscheint es mir wie eine Vorform faschistischer Gruppenbildung.
Haben die ehemaligen Blockparteien ihren Apparat ausgewechselt?
Einige kompromittierende Führer sicher, aber die meisten höheren und mittleren Funktionäre haben den Wechsel vom kommunistischen Satelliten zu antisozialistischen Rechtsparteien heil überstanden.
Welche Chancen hat die Kommunistische Partei, zu überleben?
Die Partei ist jetzt tief gespalten und aktionsunfähig. Wenn sich die Leute vom „Demokratischen Forum der Kommunisten“ durchsetzen, hat sie die Chance, zu einer ganz normalen demokratischen Partei zu werden. Was die Wahlen angeht, dürfen wir nicht nur auf die Großstädte schauen. Im ländlichen Böhmen und Mähren ist der kommunistische Apparat noch intakt, es gibt alte Loyalitäten und Gefolgschaften. Der eigentliche Test für die Kommunisten wird beginnen, wenn sich die Folgen der marktwirtschaftlichen Orientierung in den Arbeiterhaushalten bemerkbar machen. In der tschechischen Arbeiterbewegung gibt es ein starkes Sicherheitsdenken, Anspruchshaltungen an den Staat, aber auch Solidarität. Das ist anders als in Polen oder Ungarn. Wir treffen hier auf Haltungen, die älter sind als der Kommunismus, die aber auch durch die KP repräsentiert wurden. Wie überhaupt die Kommunisten samt ihrem Schreckensregiment Bestandteil der tschechoslowakischen Kultur sind. Man will das jetzt nicht wahrhaben, aber in der nächsten historischen Phase wird es sich wieder erweisen.
Das Bürgerforum schien mir nach dem Wechsel vieler wichtiger Leute in Regierungstellen in einer Krise. Wie beurteilen sie jetzt die Arbeit des Forums?
Wirklich wichtig ist nur das Prager Bürgerform, dann mit Abstand die Foren in Brünn oder Bratislava. Von einer durchgehenden Organisationsstruktur in der ganzen CSFR kann man nicht sprechen. Das Forum hat sich nach der Krise des Februar/März tatsächlich wieder gefangen. Es gibt keinen Rausch mehr, keine Allmachtsphantasien. Der Kampf um die Posten ist vorbei und die Führung erweist sich als vernünftig. Wer immer ein Narr war, ist freilich auch einer geblieben.
Was soll die künftige Gestalt des Bürgerforums sein?
Die Transformation in eine Partei ist ausgeschlossen. Es gibt zu konträre politische und theoretische Auffassungen. Daran wird sich auch nichts ändern. Ich sehe für die Zukunft zwei Möglichkeiten. Nach der einen bleibt das Forum das Dach mehrerer kleiner politischer Parteien, die sich nach und nach verselbständigen, oder auch - weil sie das politische Klima des Forums, des offenen Diskurses etc. nicht missen wollen - zusammenbleiben. Die zweite Möglichkeit besteht darin, das Forum zu einem Bund kritischer Intellektueller umzugestalten. Also keine Massenpartei sondern ein Diskussionszentrum, das die gesellschaftlichen Probleme bearbeitet und die Gesellschaft im Ganzen auf das vorbereitet, was sie in der nächsten Phase erwartet. Eine solche Partei müßte negative gesellschaftliche Tendenzen wie den Rassenhaß kritisieren und sie müßte auch Druck ausüben. Allerdings nicht in erster Linie über die Parlamente sondern über die öffentliche Meinung. Es gibt dafür ein historisches Vorbild, die Realistische Partei Masaryks in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie hatten eine Tageszeitung, eine Zeitschrift, ein paar Abgeordnete. Sie hatten keine einheitliche Weltanschauung, ihr Einfluß war dennoch sehr groß.
Ist das Ganze ihre Idee?
Keineswegs. Viele sprechen davon, allerdings ohne den skizzierten historischen Kontext. Sie haben einfach Amerika zum zweiten Mal entdeckt. Es besteht das Bedürfnis, einen Zusammenhang zu entwickeln, der zu einer Art Archetypus der politischen Diskussion werden könnte. Zu Wahlen müßten die Kandidaten des Forums als Unabhängige auftreten, vielleicht sogar zum Teil auf der Liste anderer Parteien. Ich halte das Konzept für realistisch.
Hat das Konzept einer Bewegungspartei eine Chance, etwa nach dem Vorbild dessen, was die westdeutschen Grünen einmal wollten?
Ich möchte es nicht ausschließen, aber für die nächste Zukunft ist das wenig wahrscheinlich. Soziale Bewegungen sind bei uns bisher schwach. Die Grünen verstehen sich als Lobby, als Interessenverband ohne politische Programmatik. Sie sind eigentlich nicht Bestandteil des politischen Systems.
Gibt es auch bei ihnen Kritik daran, daß sich ein ganz normales hierarchisiertes Parteiensystem herausbildet?
So weit sind wir noch nicht. Es gibt in der Tschechoslowakei schon von der ersten Republik her eine Tradition der Kritik am umfassenden Machtanspruch politischer Parteien. Die Stupidität der meisten Parteiführer heute trägt natürlich dazu bei, diese Tradition wiederzubeleben. Aber es gibt noch keine Debatten, wie eine demokratische Partei aussehen müßte.
Interview: Christian Semler
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