: Eine Strategie für Europas Linke
Die Ausweitung der EG auf Gesamteuropa bietet der Linken Chancen ■ D O K U M E N T A T I O N
In der ganzen Aufregung über die politische Union innerhalb der EG - die sowieso nicht vor 1993 realisiert wird sollten wir die Leiden derer, die einen machtvollen Anstoß zur Union gegeben haben -die Völker Mittel- und Osteuropas nicht vergessen.
Nach den Revolutionen von 1989 steht die westeuropäische Linke in dieser Frage vor einem Problem. Der Prüfstein ist ihre Bereitschaft, den osteuropäischen und sowjetischen Völkern soziale und wirtschaftliche Solidarität zu gewähren und die Probleme des Postkommunismus in einer kapitalistischen Welt anzugehen. Es ist sehr gut möglich, daß dies die Form eines schmerzhaften Dilemmas annimmt, da es für die Linke vonnöten sein könnte, institutionelle Veränderungen zu unterstützen, die ihre christdemokratischen und liberalen Gegner zeitweilig stärken.
Das Dilemma ist dies: Genau zu dem Zeitpunkt, wo für die Hauptformationen der westlichen Linken die Aussicht auf Mehrheit in den EG-Institutionen - dem Ministerrat und dem Parlament - besteht, klopfen Staaten wie Ungarn und Polen an die Tür und verlangen Mitgliedschaft. Falls sie als Vollmitglieder aufgenommen werden, würden sie sofort die Rechtskräfte und das Zentrum stärken. In Ungarn beispielweise brachten es die Sozialdemokraten nicht einmal fertig, genug Stimmen für einen einzigen Abgeordneten zusammenzubekommen. Den Ex-Kommunisten ging es etwas besser, aber sie protestierten lautstark, als ein Versuch gemacht wurde, sie am linken Rand des Parlaments anzusiedeln. Während linke Parteien auf einen Wahlsieg in Großbritannien oder der BRD hoffen können, ist dies in Polen oder der CSFR sehr unwahrscheinlich. Dort werden Sozialdemokraten wieder einmal von Glück reden können, wenn überhaupt einer von ihnen gewählt wird.
Ist die EG-Ausweitung für die Linke nachteilig?
Oberflächlich gesehen ist die Ausweitung der EG für die großen westlichen Linksparteien nachteilig. Tatsächlich hat die westeuropäische Arbeiterbewegung und die Linke aber ein mächtiges Eigeninteresse in der Förderung wirtschaftlicher und sozialer Erfolge in Osteuropa, da die Konsolidierung eines drittrangigen Kapitalismus auch die sozialen Errungenschaften im Westen gefährden würde.
Wenn sich Margaret Thatcher einer Stärkung der EG -Insitutionen widersetzt, oder wenn die Komission eine Ausweitung der Mitgliedschaft ablehnt, unterstützten sie eigentlich eine Dynamik ökonomischer Integration ohne Mäßigung durch demokratische Institutionen. Die Banken und die Multis wollen Osteuropa auffressen, egal was die EG tut.
Die gegenwärtige Bewegung zu einem europäischen Föderalismus - die politische Union - sollte man willkommen heißen, so lange sie Demokratisierung, Ausdehnung der EG -Mitgliedschaft und die damit erforderliche Schaffung neuer Institutionen bedeutet, die sich auf sozialem und ökonomischem Gebiet einmischen. Eine Ausdehnung der Mitgliedschaft würde ein generöses Programm sozio -ökonomischer und ökologischer Rehabilitation mit sich bringen. Sie würde mit kühnen Schritten zum Aufbau kompetenter und demokratischer transnationaler Institutionen und Autoritäten einhergehen müssen, um den wirtschaftlichen Fortschritt, ökologischen Schutz und soziale Gerechtigkeit zu garantieren. Natürlich bleibt die EG im wesentlichen eine kapitalistische Institution, sogar eine dem Laissez-faire verpflichtete. Doch eine zunehmend vereinte, transkontinentale Arbeiterbewegung, zusammen mit dem fortschrittlichen Flügel der grünen Bewegung und anderen Bündnispartnern, könnte den ersten Schritt zur Schaffung und Durchsetzung einer anderen Logik leisten.
Obwohl nur wenige Linke der EG den RGW oder EFTA gegenüberstellen würden, könnte es immer noch eine Weigerung geben, die existierenden Insitutionen als Ausgangspunkt zu akzeptieren. Doch die Frage, welche europäische Institution den Kontinent vereinigen wird, ist im Grunde entschieden. Die EG, die auf den stärksten Wirtschaftsmächten aufbaut, ist die maßgebliche Institution. Die Regierungen Ungarns, der Tschechoslowakei und Polens haben durch ihre Mitgliedsanträge diese Tatsache anerkannt. Auch Österreich hat die Mitgliedschaft beantragt - und es ist wahrscheinlich, daß andere EFTA-Mitglieder wie Schweden und Norwegen dem folgen werden.
Small ist nicht beautiful
Dies zu verkennen bedeutet, einer kurzsichtigen und egoistischen „Small is Beautiful„-Mentalität in der EG anheimzufallen. Mittel- und langfristig sieht es nämlich anders aus. Das von Kohl und Mitterrand vorgeschlagene in zwei- oder drei Stufen entstehende (EG-) Europa würde eine korrumpierende Spielart des innereuropäischen Kolonialismus hervorbringen. Wenn Osteuropa erfolgreich in eine mexikanische oder zentralamerikanische Rolle relegiert wird, wird die westeuropäische Arbeiterbewegung wahrscheinlich eine verstärkte Marginalisierung nach US-Muster erfahren, auch wenn die Bestorganisierten einige Privilegienkrümel ergattern. Andererseits würden auch die Erfahrungen, Traditionen und Institutionen der Mitgliedsaspiranten die mögliche Reife und Stärke der europäischen Linken voranbringen.
Trotz der politischen Risiken sollte die westeuropäiosche Linke Übergangsmaßnahmen für den Weg zur vollen EG -Mitgliedschaft aller beitrittswilligen und demokratischen Staaten Osteuropas und der EFTA einfordern. Solche Maßnahmen müßten einschließen:
-a) ein Schuldenmoratorium;
-b) einen sozialen und ökonomischen Fonds von mindestens 100 Milliarden Pfund (280 Milliarden DM);
-c) eine EG-Industriepolitik welche bestehende Einschränkungen osteuropäischer Importe aufhebt und harmonische, dauerhafte Entwicklung fördert;
-d) Ausarbeitung einer transkontinentalen Sozialen Charta und eines Ökologischen Paktes.
EG-Demokratisierung notwendig
EG-Sprecher beharren auf ein langfristiges Purgatorium von Privatisierung und Marktorientierung bis ins nächste Jahrtausend hinein für neue Anwärter, um sie auf die Vollmitgliedschaft vorzubereiten. Eine Studie des EG -Wirtschaftsministeriums, die am 14. Mai veröffentlicht wurde, forderte als Vorbedingung zu einer Wirtschaftshilfe für Osteuropa folgende Maßnahmen: Abschaffung aller Subventionen für Industrie und Landwirtschaft, drastische Kürzungen im sozialen Netz und eine „Schocktherapie“ mit Massenarbeitslosigkeit. Wenn man der EG-Agrarpolitik gedenkt, oder die verschiedensten Arten der Industriesubventionierung in jedem EG-Mitgliedsstaat, ist dies arrogant und verlogen.
Wenn die EG demokratische Garantien seitens der osteuropäischen Staaten verlangen kann, sollte sie zu ihrer eigenen Demokratisierung bereit sein, dem Europaparlament wirkliche Macht einräumen und die Kommission direkt dem gewählten Parlament Rechenschaft leisten.
In der Einforderung solcher Maßnahmen sollte die westliche Linke sich auch für praxisorientierte Kooperation und Solidarität zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in verschiedenen Teilen des Kontinents stark machen und folgende Ziele unterstützen:
-a) Weiterführung der Detente und Entmilitarisierung;
-b) ökologische Rehabilitation;
-c) Förderung der Wirtschaftskooperation;
-d) Arbeitszeitverkürzung und verbesserte Arbeitsbedingungen;
-e) Förderung sozialer Kontrolle der Wirtschaft;
-f) Ausweitung der allgemeinen Bürgerrechte, sie müssen auch Ausländern gewährt werden und die Einführung eines sozialen Netzes, welches allmählich Europa-weit angeglichen und übertragbar ist.
Das Eintreten für Europa-weite Programme erscheint zwar sehr ehrgeizig, ist aber weniger utopisch als ein Standpunkt, der annimmt, daß man die EG einfach übergehen kann. Letzlich ist es realistischer als der blinde Optimismus, der eigentlich bezweckt, die Ost- und Mitteleuropäer allein zu lassen.
Robin Blackburn
Der Autor ist Herausgeber des britischen 'New Left Review‘. Übersetzung: Dominic Johnson
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