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Nach Brest

Die Erpressungspolitik des Westens wird auf ihre Urheber zurückschlagen  ■ K O M M E N T A R E

Der Frieden von Brest-Litowsk brachte dem jungen Sowjetstaat 1918 die dringend benötigte Atempause. Die Verhandlungen hingegen, deren letzte am vergangenen Wochenende zwischen Genscher und Schewardnadse am gleichen historischen Ort stattfand, sollten der Sowjetunion eine Entscheidung aufnötigen, die ihre inneren wie äußeren Verhältnisse weiter destabilisieren wird. In seinem Bemühen, einen Rest von Manövrierspielraum zu sichern, hat Gorbatschow jetzt einer „assoziierte Mitgliedschaft“ des geeinten Deutschland in der Nato unter der Bedingung zugestimmt, daß gleichzeitig eine Reform der Blöcke vor sich gehe und die (auch militärischen) vertraglichen Verpflichtungen der beiden deutschen Staaten erhalten blieben. Der ganze Komplex solle in einem Grundlagenvertrag zwischen den Blöcken geregelt werden. Das Problem dieser neuen Vorschläge besteht einfach darin, daß die USA und mit ihr die westlichen Hauptmächte weder eine wie immer gefaßte Doppelmitgliedschaft Deutschlands in beiden Blöcken akzeptieren werden und erst recht nicht daran denken, die Nato in ein politisches Konsultativgremium zu überführen. Genschers Rede von der Transformation der Nato in ein „vorwiegend“ politisches Bündnis gehört zu jenem Arsenal von Verschleierungsphrasen, die der Minister so virtuos zu handhaben weiß. Was soll die Konzession, gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen im Rahmen der KSZE zu akzeptieren, wenn gleichzeitig der militärisch -bürokratische Mega-Apparat der Nato einfach weiterexistiert? Ein nur für Mitteleuropa gültiges militärisches Abkommen würde den KSZE-Prozeß darüber hinaus jeder Dynamik berauben.

Die Bush-Administration behauptet, Gorbatschow stärken zu wollen, andererseits untergräbt sie mit ihrem Maximalismus alle noch denkbaren Vorstellungen von Gleichgewicht. Im Milieu der westlichen Militärs wird nur noch über die Höhe des Schecks spekuliert, mit der man der Sowjetunion ihre Zustimmung abkaufen will. Jetzt heißt es bei unseren geschichtsphilosophierenden Politikastern, man müsse „die Gunst der Stunde nutzen“. Auf den Zusammenbruch der sowjetischen Außenpolitik zu hoffen und gleichzeitig zu meinen, dieser werde keine katastrophalen Rückwirkungen auf die Sowjetunion selbst und dann auch auf die internationalen Beziehungen haben, ist der reine Selbstbetrug. Waren es nicht westliche Strategen, die einst von der Unteilbarkeit der Sicherheit sprachen?

Christian Semler

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