: Bewegung im Konflikt Moskau - Baltikum
■ Neuer sowjetischer Vorschlag: Einfrieren der Unabhängigkeit für die Zeit der Verhandlungen / Sowjetischer Föderationsrat beschließt neue Unionsverfassung / Bündnis souveräner Staaten / Jelzin zur Zusammenarbeit bereit / Selbständige russische Partei wird gegründet
Moskau (dpa/taz) - Nach dem Gespräch Präsident Gorbatschows mit seinen Amtskollegen aus Litauen, Estland und Lettland scheint der Boden für ernsthafte Verhandlungen gelockert. Litauens Landsbergis und Lettlands Gorbunow sprachen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz zwar nur von einer „Klärung der Standpunkte“. Aber Gorbatschows neue, auf der Sitzung des Obersten Sowjets vorgebrachte Variante, die Unabhängigkeitserklärungen nur für die Dauer von Verhandlungen „einzufrieren“, hat Bewegung in die verhärteten Fronten gebracht. Gorbunow stellte eine Behandlung des Vorschlags auf der nächsten Sitzung des Parlaments in Riga in Aussicht. Auch Landsbergis zeigte sich diskussionsbereit, lehnte aber jede Diskussion ab, wenn nicht zuvor eine „normale Situation“ in Litauen geschaffen werde. „Es ist wenig wahrscheinlich, daß die Wirtschaftsblockade Litauens durch die Sowjetunion morgen aufgehoben wird. Verhandlungen aber können während einer Blockade nicht stattfinden.“ Auch der sowjetische Ministerpräsident Ryschkow, der sich ebenfalls mit den baltischen Politikern getroffen hatte, verbreitete wohldosierten Optimismus. Der neue Einfrierungsvorschlag setze die nach der Unabhängigkeitserklärung beschlossenen Gesetze nicht außer Kraft. Nach Ryschkow hätten die Präsidenten der baltischen Republiken Verständnis gegenüber der Position der sowjetischen Regierung bezeugt. Litauen, Estland und Lettland hatten zuvor an einer Sitzung des sowjetischen Föderationsrates teilgenommen, freilich - so Landsbergis später - nur als Gäste. Diesem Beratergremium gehören die Vorsitzenden der Obersten Sowjets aller Unionsrepubliken von Amts wegen an. Der Föderationsrat beschloß die Ausarbeitung eines neuen Unionsvertrages, der die Republiken zu einer Union souveräner sozialistischer Staaten zusammenschließen soll. 'Tass‘ meldete, eine Arbeitsgruppe sei mit dem Entwurf des Vertrages beauftragt worden. Alternativ hat der Präsident der Ukraine einen „runden Tisch“ vorgeschlagen, der dem Föderationsrat Vorschläge unterbreiten soll.
Von Gorbatschow schließlich war zu hören, es gehe nicht um die Umwandlung der jetzigen Union in einen Staatenbund oder ein locker zusammengehaltenes Gebilde wie das Commenwealth. Man brauche eine Verfassungsstruktur, die sowohl föderative wie konföderative Elemente enthalte. Dem steht die Auffassung demokratischer Politiker in den Unionsrepubliken entgegen, die der Zentrale künftig die ausschließliche Kompetenz nur in der Außen- und Verteidigungspolitik überlassen wollen.
Boris Jelzin, der neue Präsident der russischen Föderation, berichtete vor dem Obersten Sowjet, daß er sich mit Gorbatschow über die zukünftige Zusammenarbeit verständigt habe. „Wir werden auf einer geschäftsmäßigen gemeinsamen Grundlage zusammenarbeiten, weil Rußland nicht ohne die Union, die Union aber auch nicht ohne Rußland existieren kann.“
Am 19.Juni wird in Moskau eine russische Parteikonferenz beginnen, die zum Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Rußlands umgewandelt werden soll. Rußland hatte bisher als einzige der Sowjetrepubliken keine eigene Parteiorganisation, sondern nur ein russisches Büro beim Zentralkomitee der KPdSU. Auf dem Gründungsparteitag soll ein erster Sekretär gewählt, das Aktionsprogramm hingegen erst nach dem Parteitag der KPdSU, der am 2.Juli beginnen wird, verabschiedet werden.
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