Zwischen Aufklärung und Bevormundung

■ Streit um Liste mit Stasi-Objekten / taz-Plenum in West-Berlin entscheidet, daß sich die BürgerInnen der DDR mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen haben / Zweiter Teil der Debatte wurde um die Motive und das Selbstverständnis der tazlerInnen geführt

Das Redaktionsplenum der West-taz beschloß am Freitag abend mit großer Mehrheit - gegen den einhelligen Protest der in der DDR lebenden MitarbeiterInnen - eine Liste mit über neuntausend Adressen von früheren Stasi-Objekten unzensiert in der DDR-taz zu veröffentlichen. Dieser Beschluß wurde inzwischen von der Redaktionsleitung faktisch aufgehoben. Dennoch verdient der Vorgang genauere Betrachtung, weil er näheren Aufschluß über die Konsequenzen der Vereinigung beider deutscher Staaten und Gesellschaften in einem nicht unwichtigen Teil des „alternativen“ Milieus verspricht. Der Berichterstatter will dabei nicht verschweigen, daß er sich an dieser Auseinandersetzung selbst engagiert beteiligt hat, hofft aber, daß es ihm trotzdem gelingt, die Argumente beider Seiten kenntlich zu machen.

Pro Veröffentlichung

Die Liste mit den Stasi-Objekten war der taz schon vor einiger Zeit zugespielt worden. Über ihre Veröffentlichung wurde jedoch erst gestritten, als die MitarbeiterInnen des Anbau-Verlages, also der DDR-taz, Mitte der Woche die fertigen Adressenlisten zu Gesicht bekamen. Zuvor hatte es niemand der Initiatoren für notwendig befunden, darüber mit den DDR-KollegInnen zu sprechen. Eine dann hastig einberufene Diskussion in den Räumen der DDR-taz endete mit der gemeinsamen Forderung, die Liste nur mit geschwärzten Haus- und Wohnungsnummern zu veröffentlichen. Das wiederum führte zu längeren Diskussionen in der West-taz, die zu einer Verschiebung des Publikationstermins und schließlich zu dem besagten Plenum führten. Auf dem Plenum waren etwa fünfzig bis sechzig Personen anwesend, die meisten davon MitarbeiterInnen der Zentralredaktion. Die Atmosphäre war anfangs gespannt, dann zunehmend gereizt.

In der ersten Phase der Debatte wurden die wichtigsten Argumente beider Seiten noch einmal vorgestellt. Für eine Veröffentlichung dieser Liste spräche erstens, so wurde gesagt, daß es sich hier um Objekte im Werte von zwanzig Milliarden Mark handele, die auf undurchsichtige Art und Weise verschoben würden. Darüber sollte Transparenz hergestellt werden, denn bisher sind selbst den Bürgerkomitees zur Auflösung der Stasi nicht alle diese Daten bekannt. Zweitens böte die vollständige Liste einen plastischen Eindruck von der Durchdringung der Gesellschaft durch die Stasi, von der Alltäglichkeit ihrer Präsenz. Drittens finde in Bezug auf die Stasi-Vergangheit ein „gigantischer Verdrängungsprozeß“ statt, den es zu durchbrechen gelte. Und viertens wurde erklärt, Mitglieder der Bürgerkomitees hätten sich für eine Veröffentlichung ausgesprochen.

Contra Veröffentlichung

Gegen eine Publikation in der geplanten Form wurde - von den MitarbeiterInnen aus der DDR und einzelnen RedakteurInnen aus dem Westen - vor allem mit dem Hinweis auf die gegenwärtige Atmosphäre in der DDR argumentiert. Es gibt eine latente Bereitschaft zu spontaner Gewalt. Eine solche Liste könnte als Angebot geeigneter Objekte gelesen werden, die Publikation somit zu unkalkulierbaren Folgen führen. Die in der taz veröffentlichte Vorankündigung bestärke das noch, ist sie doch mit der Aufforderung verbunden, „selbst auf Recherche zu gehen“. Die Gefahr sei groß, daß völlig unschuldige Menschen in den Verdacht einer wie auch immer gearteten Zusammenarbeit mit der Stasi kämen. Sei es eine Oma, die einem freundlichen Herrn ein Zimmer vermietet hat, oder der Mieter einer langfristig angelegten konspirativen Wohnung, die von der Stasi noch gar nicht genutzt worden ist. Der vorgebliche Zweck der Veröffentlichung, die Herstellung gesellschaftlicher Transparenz über das weitere Schicksal dieser Objekte, wäre auch damit einzulösen, daß die Liste den Bürgerkomitees zugänglich gemacht wird.

Die Ost-West-Debatte

Aus dieser Gegenüberstellung von Positionen entwickelte sich die zweite Phase der Debatte, in der es mehr um Motive und Selbstverständnis als um den konkreten Anlaß ging. Um die Einwände gegen eine Publikation zu entkräften, wurden starke Zweifel hinsichtlich der latenten Gewaltbereitschaft in der DDR angemeldet. Die Revolution war „friedlich“. Ex-Stasi -Leute, deren Vergangenheit in der Nachbarschaft oder im Betrieb wohl bekannt ist, blieben bisher unbehelligt. All das zeige, daß es sich hier um eine starke Übertreibung handle. Hinter der Ablehnung der Publikation wurden deshalb andere Motive vermutet: ein unzureichendes journalistisches Selbstverständnis und die fehlende Bereitschaft, sich offensiv mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Parallelen wurden gezogen zu den 60er Jahren in der Bundesrepublik. Hatten damals die späteren „68er“ ihre Elterngeneration gezwungen, sich der verdrängten Vergangenheit zu stellen, so sei es jetzt die Aufgabe der taz, einen neuerlichen Verdrängungsprozeß zu verhindern. Jedes Argument eines DDR-Bürgers gegen eine Veröffentlichung wurde so geradezu als Beleg für ihre Notwendigkeit wahrgenommen. „Es gibt keine Unbeteiligten in der DDR.“

Das Recht der Westberliner taz-Redaktion, darüber zu entscheiden, wie die BürgerInnen der DDR mit ihrer Vergangenheit umgehen, wurde von einer Redakteurin so begründet: Wegen der bald bevorstehenden Vereinigung beider Staaten ist das „auch unsere Vergangenheit. (...) Ich nehme mir das Recht heraus, auch darüber zu urteilen, wie damit umgegangen wird!“ Sie sei bereit, sagte eine andere, „in diesem Falle Risiken einzugehen“.

Der Hinweis eines DDR-Teilnehmers, es gehe doch um „Aufklärung als Selbstaufklärung“, wirkte angesichts dieser Vereinnahmung seiner Vergangenheit hilflos. Gegen Ende der Debatte wurde diese paternalistische Haltung noch einmal zugespitzt. Ein zuvor als „Kronzeuge“ zitiertes Mitglied des Bürgerkomitees in der Normannenstraße war inzwischen selbst gekommen.

Es stellte sich heraus, daß er das Gegenteil der ihm unterstellten Position vertrat: Er war entschieden gegen eine Veröffentlichung und forderte, auf die KollegInnen aus der DDR zu hören. Als er gegen die Atmosphäre von Bevormundung die Feststellung setzte: „Wir haben die Revolution selbst gemacht!“, bekam er einen Zwischenruf zur Antwort: „Das stimmt nicht!“

Die Diskussion war damit beendet. Die Mehrheit entschied, die DDR-KollegInnen nahmen an der Abstimmung nicht teil. Am nächsten Tag hob - wie schon erwähnt - die Redaktionsleitung diese Entscheidung wieder auf. Die Debatte wird fortgesetzt.

Walter Süß