IST POELZIG FÜHLBAR?

■ Eine Diskussionsveranstaltung zur denkmalpflegerischen Wiederherstellung des Kinos „Babylon“: Stalinistischer Erlebnisraum oder tastende Poelzig-Rekonstruktion

„Um es ganz hart zu sagen: Dieser Raum ist so außerordentlich wertvoll und einmalig, daß das, was als Gegenwert respektiert werden könnte, schon von Michelangelo sein müßte. Es gibt Situationen in der Denkmalpflege, die einzigartig sind. Und ich bin enttäuscht, daß das die Denkmalpfleger nicht sehen.“

So sagte es, kurz und bewegt und voller Wut, der 86jährige Architekturhistoriker und Poelzig-Schüler Julius Posener als Resümee seines kleinen Vortrags, den er aus Anlaß der Ausstellungseröffnung des Architektenwettbewerbs zum Kino am vergangenen Donnerstag im Ostberliner Kino „Babylon“ gehalten hatte. Thema des Vortrags wie der anschließenden Podiumsdiskussion waren die Zukunft des alten Filmkunsttheaters und die Frage, ob die „einzige Raumgruppe, die wir von Poelzig in Berlin besitzen“, wie es Posener formulierte, der Kinosaal, das Foyer und die Kassenhalle, die 1948 im Stil stalinistischen Postbarocks verändert wurden, durch die kommende Sanierung „gerettet“ oder durch eine Denkmalpflege, die die Geschichte des Baus respektiert, zerstört werden würde. Das Kino müsse „so gut es irgend geht“ im Sinne Poelzigs rekonstruiert, der Raumeindruck wiederhergestellt werden, sagte Posener. Keineswegs wolle er die Kopie des Originals, was sowieso nicht gehe, schon gar nicht die „Verlegenheitslösung“ von 1948, die zudem mehrfach verändert worden wäre, und niemand wisse warum. Im Falle des „Babylon“ würde sich eine Poelzig-Rekonstruktion schon deshalb lohnen, weil das Kino in seiner ursprünglichen Dimension heute noch nutzbar wäre und als letztes erhaltenes Berliner Rangkino eine „Ausnahmesituation“ darstelle.

Im Rahmen der Sanierung des sogenannten „Scheunenviertels“ nahe dem Alexanderplatz war Anfang des Jahrhunderts durch den Abriß zahlreicher Wohnquartiere ein Areal entstanden, auf dem ein dreieckiger Platz angelegt wurde. Für dessen Mitte entwarf der Architekt Oskar Kaufmann 1914 die Volksbühne. Hans Poelzig lieferte 1927 einen Wettbewerbsentwurf, der rund um den Platz eine fünfgeschossige Wohnbebauung mit Läden im Erdgeschoß und im ersten Stock vorsah. Am Südrand, zwischen den Wohnhäusern, sollte ein Kino entstehen. Auf Wunsch der Stadt wurden auch eine Stadtbibliothek und ein städtisches Verwaltungsgebäude projektiert.

Wegen der Weltwirtschaftskrise konnten die Entwürfe jedoch nur zum Teil ausgeführt werden: Die Bibliothek und der Verwaltungstrakt entfielen ganz. Die Läden der Randbebauung wurden auf die Erdgeschoßzone reduziert. Außerdem erhielt Poelzigs Kino einen rechteckigen Grundriß statt des ursprünglich geplanten Ovals und wurde aus dem Innenhof des Blocks herausgenommen und als Eckgebäude angelegt.

Der Bau stelle, so führte Posener aus, in „Poelzigs Entwicklung einen Reifungsgrad“ dar. Der Innenraum war geschwungen, wie Posener an Details sichtbar machte, er ragte durch den Rang und die Logen über seine rückwärtigen Grenzen hinaus. Wand und Decke gingen ineinander über und waren ohne jede Schmuckformen. Die farbliche Gestaltung in Gelb, Blau und Rot verlieh dem Raum eine Behaglichkeit. Das Theater war mit einer kleinen Variete-Bühne eingerichtet. Die Bühnenöffnung war zu beiden Seiten von Prospekten der Orgel umrahmt, die noch heute hinter der Stoffbespannung zu sehen sind.

Von der schnittig-festlichen Atmosphäre, die Hans Poelzig den Innenräumen gab, ist „heute fast nichts mehr zu sehen“, gleichwohl „ist sie fühlbar“, wie sich Posener ausdrückte. Überlagert wurde sie von den schändlichen Veränderungen 1948 - dem Abriß der Treppenbrüstung, goldenen Stuckprofilen, dem bauchigen Balkon und der Verschiebung der Leinwand, der Schließung von Rang und Logen - die, ginge es nach dem Ostberliner Denkmalpfleger Robert Graefrath ebenso erhaltenswert seien wie die winzigen Poelzig-Reste, die hier und dort noch durchscheinen. Das Kino sei für ihn, so Graefrath, „in der Form seiner Umgestaltung natürlich ein Dokument“. Der Versuchung nachzugeben, einen „wie auch immer vagen Poelzig hier hineinzubauen“, bedeute, die Entwicklung des Gebäudes zu verdrängen, hieße „Geschichte zurückzudrehen“.

Doch die Geschichte des Umbaus liegt im dunkeln. Über bauliche Veränderungen während der Nazizeit gibt es keine Informationen. Bekannt ist lediglich, daß am Dach Beschädigungen auftraten und das Kino 1946 geschlossen wurde. Eine anderthalbjährige Umbauzeit legte den Spielbetrieb lahm. 1948 wurde das „Babylon“ wieder eröffnet und als Filmkunsttheater von sowjetischen Besatzungstruppen genutzt. Oberflächliche Untersuchungen der Farbschichten der Wand wie der Stuckprofile haben ergeben, daß nicht nur eine, sondern mehrere Überformungen stattfanden. Zwar sagte Graefrath nicht wie, wo und bei wem er „die Geschichte des Baus ausgraben“ wolle, da ihm noch keinerlei Unterlagen über die verschiedenen Überformungen bekannt sind, geschweige denn verriet er, welcher Architekt die 48er Fassung verbrochen hatte. Dennoch sei es Aufgabe der Denkmalpflege, die Spuren der Geschichte am „Babylon“ freizulegen, erhoffe er sich einen „erlebbaren Raum“, den wir so noch nicht kennen. Recherchen müßten angestellt werden (wo?). Gründe sollten aufgetan werden, warum der Poelzig so umgebaut wurde (wie und warum?). Analysen könnten zeigen, daß hier Veränderungen in zeitlichen Abfolgen stattgefunden haben (das sieht man!). Der 48er Raum müsse als „Erlebnis“ entdeckt werden, liege er doch hinter der muffigen Wandbespannung regelrecht versteckt. Das alles, so Graefrath, sei spannend genug, vom Standpunkt der Denkmalpflege aus betrachtet, den Raum in seiner späteren Umgestaltung zu bewahren, zumal es darum gehe, die Architektur der vierziger Jahre neu zu betrachten.

Sah Graefrath in Poseners Kritik am Erhalt der 48er Fassung nur die Bestätigung seiner Ahnung, daß mit der Architektur der vierziger Jahre die „Vernichtung eines ungeliebten Stils“ geplant sei, um deren Geschichte wie die Dokumente „ins Jenseits“ zu befördern, anstelle derer dann postmoderne Visionen aufziehen werden, so nahm der Architekturkritiker Wolfgang Schäche dieses Argument zum Anlaß, der Denkmalpflege ihr widersprüchliches Ausschließlichkeitsdenken vorzuhalten. Rekonstruktion einer ursprünglichen Fassung nur als billige Kopie zu verstehen, sei ebenso falsch wie zu glauben, mit dem Blick auf retroaktive Überformung, immerwährende historische Prozesse sichtbar machen zu können. Die „Hilflosigkeit in der Methode wie die Krise der Denkmalpflege“ sei offenbar, konstatierte Schäche. Und er hatte recht.

Das Dilemma entstehe, so Schäche, weil die vermeintlich objektiven Kriterien in der Denkmalpflege keine seien, die Denkmalpfleger aber mit ihnen hantierten. Warum, so fragte Schäche, verbeiße man sich in die 48er Fassung als die „scheinbar historisch wertvolle Überformung“ des Poelzig -Originals, sind doch die sichtbaren Veränderungen, die muffige Wandbespannung, das VEB-Plasteparkett, die Alutüren und zugenagelten Logen, unbequemen Sitze und funzeligen Lampen auch Ergänzungen einer eben schon historisch gewordenen Epoche. Die Methode, den geschichtlichen Prozeß in jedem Fall sichtbar werden zu lassen, werde sich so nicht gerecht. Statt mühselig Methoden gegeneinander auszuspielen, sollten unsere ästhetischen und historischen Interessen am Denkmal „subjektiv“ gefaßt werden. „Es geht doch nicht darum“, provozierte Schäche die Denkmalpfleger, „über das Objekt zu sprechen, sondern um die Subjektivität unserer Zeit und darum, was wir dem Objekt in Sinne von Geschichte hinzufügen wollen und was nicht.“ Zudem sei der 48er Zustand des Kinos nicht einmal ein „Gestaltungskonzept gegen Poelzig“, sondern eine „Addition von Vermanschungen“, „Hilflosigkeiten“ und unsäglichen „Versuchen, mit dem Raum irgendwie fertig zu werden“. Wie Posener plädierte er für das „Konzeptionelle“ der Poelzigschen Fassung als Bekenntnis zur Wiedergutmachung an einem großen Architekten, wie der Respektierung einer kulturhistorisch wichtigen Epoche.

Für die Denkmalpfleger steckt jedoch in der Subjektivität und moralischen Entscheidungsfreiheit, wie sie Schäche propagiert, der Teufel. Hans-Peter Kloss, stellvertretender Landeskonservator aus West-Berlin, fuhr den denkmalpflegerischen Katechismus, die „Charta von Venedig“ aus dem Jahre 1964, dagegen auf. Kloss zitierte daraus den Artikel 11: „Die Beiträge aller Epochen zu einem Denkmal müssen respektiert werden“, lehrte er. „Wenn ein Denkmal verschiedene, sich überlagernde Zustände aufweist, ist eine Aufdeckung verdeckter Zustände nur dann gerechtfertigt, wenn das Entfernte von geringer Bedeutung ist.“ Die 48er Fassung, daran ließ Kloss keinen Zweifel, sei für ihn „nicht“ von geringer Bedeutung, egal ob ein „genialer Architekt“ und eine „geniale Architektur“ dahinterstecken. Es gehe darum, zu prüfen und Erkenntnisse über den Umbau von 1948 zusammenzutragen. Ziel der Denkmalpflege könne nicht sein, „einen ursprünglichen Zustand wiederherzustellen“. Es gehe nicht um ästhetische, sondern um geschichtliche Fragen. Punktum!

Die Inszenierung großer Räume durch Licht und Farben war Poelzigs eigentliche Kunst, denkt man an seine Innenarchitektur für das Große Schauspielhaus in Berlin oder an den zeltartigen Kinosaal des „Capitols“, der den Zuschauer schon vor der Vorstellung förmlich in irreale Traumwelten katapultierte. Alle genannten Gebäude sind zerstört. Warum, so muß man sich fragen, will die Denkmalpflege eine Architektur erhalten, die nicht nur einfach schlecht gemacht ist, sondern deren Ursprung und endgültiges Aussehen nicht bekannt sind, geschweige denn, daß man den Architekten kennt, anstatt sich an Entwürfe, Pläne, Fotos, Berichte, Beschreibungen und Erfahrungen von Personen zu halten, die existieren und die eine gute Architektur zeigen. Aber die „Ausnahmesituation“, von der Posener eingangs sprach, gibt es für die Denkmalpfleger anscheinend nicht. Sie ignorieren sie, reagieren nicht einmal darauf, wie Kloss‘ und Graefraths Beiträge zeigen.

Draußen, im Foyer, hingen unterdessen die Entwürfe der Teilnehmer des Architektenwettbewerbs, den die Initiative des „Babylon-Kinos“ ausgelobt hatte und mit dem sie nach Ideen für den Umbau, der Gestaltung und nach Positionen zu Poelzig gefragt hatte. Jürgen Eckhardt, der Sieger, lieferte einen Entwurf für eine tastende Rekonstruktion der Poelzig -Architektur. Die Innenhaut soll wiederhergestellt, Ränge und Logen geöffnet, das Foyer rekonstruiert werden. Zugleich werden eine zweite Abspielstätte geschaffen, Büros und ein Cafe in das Haus integriert, ohne dabei auf ursprüngliche Grundrisse zu achten. Es ist eine gute Idee. Poelzigs Architektur wird hier nicht von baulichen „Vermanschungen“, sondern von modernen Funktionen überlagert.

rola

Die Ausstellung ist täglich im Kino „Babylon“, Rosa -Luxemburg-Straße 30, zu sehen.