piwik no script img

Das Thema Stasi soll vom Tisch

■ Des DDR-Innenministers Diestel umstrittene Art, die Vergangenheit zu bewältigen /

Innenminister Peter-Michael Diestel (DSU) hatte Ende letzten Monats genug. Vor versammelter Presse bekannte er: „Ich würde mich lieber der Inneren Sicherheit widmen.“ Die Bandenkriminalität und die Zahl der Bombendrohungen ist nach seinen Worten in den letzten Wochen in einem Ausmaß gestiegen, die ihn und seine Ressortmitarbeiter ziemlich überrascht habe. Diestel und Kollegen zeigen sich besten Willens, dem Phänomen steigender Kriminalität in der DDR entgegenzutreten - in erster Linie durch die Übernahmen bundesdeutscher Rechtsvorschriften. Der Klotz am Bein des Ministers ist das frühere Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Über dessen weitere Auflösung drohte der forsche DSU -Mann sogar mehrfach, seinen Posten zu verlieren. Bis zur deutschen Einheit, so hat es Diestel öffentlich betont, soll das Thema vom Tisch sein, soll das „Problem Stasi“ nicht mehr als „Ballast“ mitgeschleppt werden. Der Innenminister dürfte damit die Gemütslage der schweigenden Mehrheit in der DRR ziemlich genau getroffen haben.

Der Apparat der Stasi ist aufgelöst. Seit dem 1.April steht keiner der ehemaligen 85.000 Mitarbeiter mehr in einem Dienstverhältnis mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) oder der unter der Regierung Modrow errichteten Nachfolgebehörde „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS). Mit Ausnahme der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA), dem Auslandsnachrichtendienst der Stasi, sind nur noch wenige ehemalige MfS-Leute am alten Arbeitsplatz beschäftigt. Als Fachleute sind sie zur weiteren Auflösung des früheren Ministeriums eingesetzt. Mit der kompletten Demontage des Amtes soll ihre Tätigkeit am 30.Juni dieses Jahres „vollständig“ beendet sein.

Der Stein des Anstoßes

Insgesamt wurden mehr als 100 Kilometer Akten und Unterlagen in der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße sichergestellt. 75 Kilometer davon sind bisher oberflächlich gesichtet worden - eine Auswertung der Unterlagen wird noch Jahre in Anspruch nehmen. Von den 33.000 MfS-Mitarbeitern, die allein in der Ostberliner Zentrale ihren Dienst versahen, kamen etliche in anderen staatlichen Stellen unter. Diese Praxis ist nach wie vor ein Stein des Anstoßes. Das Ministerium Diestels übernahm 2.350 ehemalige MfS -Experten - darunter auch über hundert Experten der „Anti -Terror-Einheiten“. Zum Zoll gingen 2.375 Ex-Mitarbeiter, den weitaus größten Teil übernahmen aber die Grenztruppen der DDR. Dort fanden stattliche 6.600 eine neue Anstellung. 270 Spezialisten für den Bau und die Wartung unterirdischer Bunkeranlagen übernahm die Nationale Volksarmee - bei der zivilen DDR-Post fanden etwa 1.500 Ex-MfSler eine neue Heimat. Gegen die Beschlüsse des „Runden Tisches“ und des Ministerrates wurden auch nach Zerschlagung des Sicherheitsapparates noch ganze Abteilungen der Stasi am Leben erhalten. Zum Beispiel der „VEB Ingenieurbetrieb wissenschaftlicher Gerätebau“ (IWG): 1.500 Mitarbeiter aus drei der Stasi unterstellten Firmen wurden zusammengefaßt, eine neue Betriebsleitung berufen, und die Produktion aufrechterhalten. Bis Anfang des Jahres stellten die Betriebe die Gerätschaften her, die die operativen Abteilungen des MfS benutzen: Wanzen, Funkgeräte und Chiffrier-Einrichtungen - das kleine Handgepäck für die Spionage im Ausland oder Überwachung der Opposition im Inland.

Weil mit westlicher Technologie auf dem neusten Stand der Technik fand sich für das VEB IWG auch schnell ein westdeutscher Partner für ein Joint-venture. Als neue Produktionspalette sind nun Hörgeräte (die sich - klein aber fein - selbst in Brillenbügel integrieren lassen) und Meßinstrumente für die Umwelttechnik geplant. Bis es soweit ist, wird jetzt mit der alten Produktpalette im westlichen Ausland gutes Geld verdient.

Vor fast genau fünf Monaten nahmen die Bürgerkomitees das Zepter in die Hand. Nachdem sich am 15. Januar Tausende am „Sturm mit Phantasie“ auf die Stasi-Zentrale beteiligten, gründete sich im Anschluß daran eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, die sich in Sicherheitspartnerschaft mit der Volkspolizei des Stasi-Kraken annahm. Allein in der Stasi -Zentrale beteiligten sich über hundert Ehrenamtliche. Sie kappten Tausende von Kabel, mit denen die Telefonate in der DDR flächendeckend überwacht wurden, versiegelten Tonnen von Stasi-Akten, und sie setzten die endgültige Auflösung des MfS gegen die damalige Übergangsregierung unter Ministerpräsident Modrow durch. Wäre es nach der damaligen Regierung gegangen, wäre der Stasi-Nachfolger „Amt für nationale Sicherheit“ inhaltlich zwar aufgelöst, aber als als selbständiger „Auslandsnachrichtendienst“ auf der einen Seite und als „Verfassungsschutz“ auf der anderen Seite weitergeführt worden.

Das wahre Ausmaß der Stasi-Aktivitäten wurde von den Bürgerkomitees und der Arbeitsgrupee Sicherheit am zentralen Runden Tisch nach und nach offengelegt. Die Bestandsaufnahme übertraf die schlimmsten Erwartungen. Angefangen von der Anzahl der Bespitzelten (über rund sechs Millionen DDR- und zwei Millionen Bundesbürger wurden Dossiers angelegt) über die Zahl der Beschäftigten (85.000 Hauptamtliche, zu denen noch einmal 105.000 sogenannte „inoffizielle“ Mitarbeiter kamen), über die reibungslose Verzahnung mit dem SED-Staat bis hin zu detailierten Plänen, im „Spannungs- und Verteidigungsfall“ massenhaft Oppositionelle in Isolierungs und Internierungslager verschwinden zu lassen. Landauf, landab leisteten die Bürgerkomitees auch den überwiegenden Teil der Arbeit um die Strukturen des MfS offenzulegen. Auf ehemalige Mitarbeiter des Überwachungsapparates konnten sie nur selten zurückgreifen. Der größte Teil der früheren Funktionäre meldete sich schweigend ab. Nicht selten verschleierten sie nach Zusammenbruch des Staatssicherheitsdienstes ihre früheren Positionen.

Mit den Wahlen zur Volkskammer am 18.März erlosch offiziell das Mandat der Komitees. Die weitere Auflösung des Amtes ging in die Verantwortung der neuen Regierung über. Minister Diestels erster Akt war eine Beschneidung der Befugnisse des Komitee. Wortreich lobte er zwar die Leistungen der ehrenamtlichen Auflöser, gleichwohl prognostizierte er sofort: „Die Arbeit der Bürgerkomitees wird ein Veränderung erfahren.“ Seine Linie legte Diestel in der ersten Aprilhälfte bei einer Sitzung mit den Mitgliedern des Bürgerkomitees fest. Das staatliche Auflösungskomitee, bis dahin unter Kontrolle dreier Regierungsbeauftragter, die dem „Runden Tisch“ verantwortlich waren, unterstehe fortan ihm alleine, ließ Diestel wissen. Den Bürgerkomitees komme nunmehr nur noch eine beratende Funktion zu. Das Triumvirat der drei Regierugsbeauftragten wurde in seiner Zuständigkeit abgelöst. Der Zugang zum Archivmaterial war ab diesem Zeitpunkt den Bürgerkomitees versperrt.

Den Zorn, den sich Diestel mit seinen Maßnahmen von Seiten der Bürgerkomitees zuzog, wollte der DSU-Mann anschließend mit der Bildung einer Regierungskommission besänftigen. In die siebenköpfige Kommission, die Diestel am 30. Mai vorstellte, berief er illustere Köpfe, wie etwa die Schriftsteller Walter Janka und Stefan Heym. Den gegen ihn erhobenen Vorwürfen, er betreibe die Auflösung des Amtes nicht konsequent genug, wollte Diestel damit entgegen treten. Der energischste der alten Regierungsbeauftragten, Werner Fischer vom Neuen Forum, blieb bei der Kommissionsbildung aber außen vor. Fischer hatte die Amtsführung des neuen Ministers am vehementesten angegriffen. Grund dafür hatte Diestel genug geliefert.

Tote leben länger

Tote Apparate leben länger, hat Diestel seit seiner Amtseinführung lernen müssen. Erkennen mußte er auch, daß 40 Jahre Stasi nicht so ohne weiteres administrativ mit einem Federstrich aus der Vergangenheit zu tilgen sind. Als Diestel beispielsweise daran dachte, den früheren Chef der Stasi-Auslandsspionage, Markus Wolf, als Experten zur weiteren Auflösung der unheimlichen Behörden heranzuziehen, wackelte sein Ministersessel ganz gehörig. Die eigene DSU -Fraktion quittierte Diestels Vorgehen mit einer Rücktrittsforderung. Zu groß ist das Mißtrauen von Politikern und Bevölkerung, als daß eine Mitarbeit von früheren Spitzenfunktionären bei der Auflösung des MfS erträglich erscheint. Auch an anderen Punkten drohte Diestel zu stolpern: Über die für DDR-Verhältnisse horrenden Renten, die ehemaligen MfS-Funktionären ausgezahlt werden, über die Übernahme von Stasi-Personal in andere Dienststellen und nicht zuletzt über seine eigenwillige Art, mit dem belastenden Archivgut der Stasi umzugehen.

„Gestatten Sie uns, rechtsstaatliche Maßstäbe anzuwenden“, hatte Diestel am 16.Mai vor versammelter Presse getönt, als er den weiteren Gang seiner Behörde zur endgültigen Auflösung des MfS vorstellte. Den Wunsch der Bevölkerung nach Akteneinsicht könne er durchaus verstehen, sagte er bei dieser Gelegenheit, er könne dem aber nicht nachkommen. In einer „Phase, in der wir alle Menschen brauchen, um kommende Widersprüche überstehen zu können“, könnten die Akten nicht offengelegt werden. „Verfälschungen und ein Denunziantentum“ wären die Folge - „die Vergiftung der Atmosphäre muß ein Ende haben“, beteuerte der DSU-Mann. Für „Dokumente mit schutzwürdigen Informationen über Betroffene“ wurde per Ministerratsbeschluß am 16.Mai entsprechend einer Vorlage aus dem Hause Diestels festgelegt, gelte eine Schutzfrist von 110 Jahren. Für Informationen, die die Sicherheitsinteressen anderer Staaten tangieren, wurde eine 80jährige Sperrfrist verfügt.

Ob der von Diestel reklamierte Maßstab durchzuhalten ist, scheint fraglich, wie ein Beispiel aus sem Haus des Innenministers illustriert. Auf der gleichen Pressekonferenz wurde Diestel gefragt, wie er mit den Informationen des Mitglieds des Erfurter Bürgerkomitees Mathias Büchner umzugehen gedenke. Büchner hatte dem Minister am 9. Mai im DDR-Fernsehen vor laufender Kamera ein Merkblatt überreicht, auf dem die Namen mehrerer Volkskammermitglieder, die eine Stasi-Vergangenheit besitzen sollen, aufgeschrieben waren. Diestel wehrte die Frage ab: „Ich kann diese Informationen hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes nicht überprüfen.“ Er lehne ein solches Verfahren er ab. Derartige Zettel werde er kategorisch „ignorieren“. Tatsächlich geschah das Gegenteil: Noch vor seiner Äußerung, am 15.Mai, hatte der Minister dem Leiter des staatlichen Komitees, Günther Eichhorn, eine Kopie von Büchners Informationen zukommen lassen. Die Angaben wurden im Stasi-Komplex in der Berliner Normannenstraße überprüft. Die Regierungsbeauftragten Fischer, Böhm und Peter hätten diesem Vorgehen entsprechend dem Ministerratsbeschluß 13/4/90 vom 18.Februar zustimmen müssen - sie wurden nicht einmal gefragt. Beim anschließenden Gang ins Archiv war das Bürgerkomitee obwohl dessen Anwesenheit Pflicht gewesen wäre - auch nicht dabei. Weil keiner der zuständigen ehrenamtlichen Stasi -Auflöser zu erreichen gewesen sei, wurden die Siegel des Komitees ohne ihr Beisein gebrochen. Es habe Zeitdruck geherrscht, rechtfertigte sich später der stellvertretende Komiteeleiter Eichler, da der Minister eine Antwort bis spätestens 13.30 Uhr zur Vorbereitung seiner Pressekonferenz angemahnt habe.

Damit nicht genug: Der Wunsch nach Informationen über die genannten „Spitzenpolitiker“ wurde bei diesem illegalen Gang ins Archiv gleich miterledigt. Büchners Zettel enthielt die drei Namen und als Hinweis zehn Registiernummern des MfS. Die Mitarbeiter des staatlichen Komitees wurden damit fündig: In der Kartei fanden sich Hinweise, daß die entsprechenden Vorgänge in der Erfurter Bezirksverwaltung zu finden sind.

Der Rechercheakt war im staatlichen Komitee höchst umstritten. Leiter Eichhorn und Stellvertreter Eichler hätten auf die gesetzlichen Bestimmungen aufmerksam machen und eine Einsichtnahme in die Kartei verhindern müssen, erklärte Eichhorns erster Stellvertreter Schmutzler. Dem rangniedrigeren Eichler erteilte er anschließend einen Verweis. Diestel selbst konnte sich aus der Schußlinie ziehen. Die „bedauerlichen Vorfälle“ gehen auf das Konto eigenmächtig handelnder Mitarbeiter des staatlichen Komitees. Von einer Rüge des Ministers sah der Innenausschuß der Volkskammer letzte Woche ab.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen