: „Ein Atomkrieg gegen die eigene Bevölkerung“
■ Mitglieder der Bürgerbewegung „Nevada-Semipalatinsk“ aus Kasachstan brechen das Schweigen über Atombombentests in ihrer Heimat / 40 Jahre lang galten die Tests in der Sowjetunion als geheime Verschlußsache / Die Opfer des radioaktiven „Fall-outs“ galten als Versuchskaninchen und Objekte von Dissertationen
taz: In welchem Gebiet von Kasachstan wurden die Atombombenversuche durchgeführt?
Hafiz Mataev: Das Testgebiet liegt in einer weiten Steppe mit kontinentalem Klima. Im Sommer herrschen hier Temperaturen bis 40 Grad, im Winter sinken sie teils bis minus 40 Grad. Diese extremen Klimaunterschiede spiegeln sich auch in der Wirtschaftsform der Menschen. Das Schwergewicht liegt auf der Schaf- und Rinderzucht.
Sahariewa Umit: Gerade das Gebiet um das Poligon (russisch: Testgelände) ist eine geschichtsträchtige Region. Bereits im 10.Jahrhundert muß hier eine hohe Zivilisation geherrscht haben, da ausgerechnet im Poligon wichtige archäologische Funde gemacht worden.
H.Mataev: In dieser Region Kasachstans werden seit vierzig Jahren Atomwaffen getestet. In den ersten 13 Jahren nach 1949 wurden die Tests in der Atmosphäre durchgeführt, nach 1963 unterirdisch. Vier Jahrzehnte lang haben die Militärs die Bevölkerung getäuscht und die Gefahren ihrer Atomversuche totgeschwiegen.
Kalina Kuzembaewa: Am 4.Mai 1989 kamen zum ersten Mal Menschen in das Testgebiet hinein. Olzhas Suleimanow, der heutige Vorsitzende unserer Bewegung, und drei Journalisten hatten die Genehmigung erhalten, ins Poligon zu reisen. Ich selbst war mit einer zweiten Gruppe von Aktivisten im Oktober vergangenen Jahres dort. Wir sind in einem Hubschrauber über das Gebiet geflogen. Unter uns lag die kasachische Steppe in scheinbarem Frieden, aber man sah der Erde ihre Wunden und ihren Schmerz an. Ich habe das Bild immer noch vor Augen. Tiefe Spalten durchziehen die Erde, die an beiden Seiten eingefallen sind. Das Gebiet ist stark verseucht, ganz anders, als uns die Militärs in den vergangenen Jahrzehnten immer weismachen wollten. Über 700 Atom-Explosionen waren in den vergangenen 40 Jahren durchgeführt worden, besonders intensiv während der Kuba -Krise 1961 und 1962. Allein in diesem einen Jahr sind noch 94 Tests durchgeführt worden.
In welchem Umkreis dieses Gebiets lebt die Bevölkerung?
H.Mataev: Die nächste Ansiedlung befindet sich etwas mehr als 35 Kilometer vom Poligon entfernt. Infolge dieser Tests hat sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung in der Region drastisch verschlechtert, ihre Lebenserwartung ist durchschnittlich um bis zu fünf Jahren gesunken, die Mütter und Kindersterblichkeit hat stark zugenommen. Bei Neugeborenen stellt man zahlreiche Anomalien fest. Wir können bislang nur Vermutungen darüber anstellen, wieviele Kinder mit schweren Geburtsfehlern zur Welt gekommen sind. In den vergangenen zehn Jahren ist insbesondere unter jungen Leuten die Selbstmordrate beängstigend in die Höhe geschnellt. Allein in einer Sowchose mit dem Namen Thälmann haben sich 22 junge Leute das Leben genommen. 33 Menschen sind wahnsinnig geworden.
Wenn die Menschen über Jahrzehnte zum Schweigen verurteilt waren, wie sind sie dann untereinander mit ihrem Schicksal umgegangen?
H.Mataev: Bei unserem Kongreß kürzlich in Alma Ata sagte einer der Betroffenen: „Wir haben unsere Lage und unsere Tragödie erst verstanden, als wir zu sterben begannen. Zuvor war uns das Problem nicht bekannt. Uns wurde ja von der Regierung eingeredet, daß wir stolz sein sollten, in einem Gebiet mit solcher technischen Hochleistung leben zu dürfen.“
K.Kuzembaewa: Diese Tragödie des kasachischen Volkes hat auch Sacharow in seinen Arbeiten erwähnt. Er war übrigens einer der ersten, die als Urheber dieser Waffen immer wieder gefordert haben, daß Entwicklung und Tests unverzüglich gestoppt werden müßten. Wir - das kasachische Volk - sind vom Stolz ins Entsetzen gefallen. Jetzt sind wir alle über das Ausmaß der Tragödie bestürzt, die unser Land heimgesucht hat.
In den wenigen Berichten zur Lage im Testgebiet ist zuweilen die Rede vom sogenannten Dispensarium Nr.3. Was ist dort geschehen?
K.Kuzembaewa: Dank der Aktivitäten der Bewegung „Nevada -Semipalatinsk“ ist es gelungen, die Unterlagen aus dem Dispensarium Nr.3 sicherzustellen, damit sie nicht irgendwo verschwinden. Veröffentlicht sind sie noch nicht. Aber wir hoffen, daß wir das bald nachholen können. In diesem Dispensarium Nr.3 wurden verstrahlte Menschen nicht medizinisch betreut oder behandelt, sie wurden lediglich beobachtet. Man betrachtete sie als Untersuchungsobjekte. Die Mitarbeiter haben sie regelmäßig untersucht und ihre Studien gemacht. Es ist entsetzlich, aber es ist wahr, daß die Menschen dort Gegenstand zahlreicher Doktorarbeiten waren. Wir wissen nicht genau, wieviele Studien verfaßt worden sind, aber es gibt Leute, die ihren wissenschaftlichen Profit aus dem Leid dieser Menschen gezogen haben.
An welchen Krankheiten litten die Menschen, die hier offensichtlich als Versuchsobjekte gehalten wurden?
K.Kuzembaewa: Wir sind keine Experten auf medizinischem Gebiet, aber nach unseren Beobachtungen und der Auswertung von Materialien, die wir zur Verfügung haben, handelt es sich in erster Linie um verschiedene Krebsarten, um körperliche und geistige Fehlentwicklungen. Zum Teil sind bereits genetische Veränderungen festzustellen. Es gibt auch Veränderungen im Immunsystem. Wir sprechen bereits vom „Semipalatinsk-Aids“ und meinen damit die weitreichenden Veränderungen im Immunsystem. Im Gebiet Abai ist festzustellen, daß jedes dritte Kind entweder tot zur Welt kommt oder mittelschwere bis gravierende geistige oder körperliche Schäden hat. Uns fehlen bislang noch Mittel und Wege, die Erkrankungen der Menschen wissenschaftlich einwandfrei auf die Atomtests zurückzuführen. Die Gesundheitsbehörden in Moskau versuchen immer wieder, uns einzureden, daß die Ursachen der Erkrankungen woanders liegen. Doch damit geben wir uns natürlich nicht zufrieden, weil unsere eigenen Untersuchungen gerade das Gegenteil zeigen. Da können uns die Ärzte aus Moskau keinen Trost spenden, denn es ist nahezu bewiesen, daß in jeder Familie mindestens eine Person, oftmals mehrere an Krebs sterben, auch ganz junge Menschen. Es ist gewiß nicht übertrieben zu sagen, daß die dort ansässige Bevölkerung möglicherweise vor dem Aussterben steht.
Wie kam es dazu, daß Sie eines Tages über Ihre Erlebnisse und die Lage der Menschen sprechen konnten?
K.Kuzembaewa: Dies verdanken wir den Veränderungen in der Sowjetunion, die durch Glasnost und Perestrojka möglich wurden. Doch wir dürfen nicht vergessen, daß der wesentliche Antrieb dazu von unserem Volkdichter und Abgeordneten Olzhas Suleimanow kam, der nach den beiden mißglückten Atomversuchen im Februar vergangenen Jahres, als in der Atmosphäre ein hohes Maß an Radioaktivität freigesetzt wurde, im Fernsehen von Kasachstan gesprochen hat. Niemand wußte zuvor, worüber er sprechen würde. Am 26.Februar hat er zum ersten Mal und vor laufenden Kameras einen Bericht über die Lage im Poligon gegeben. Dabei hat er einen Satz gesagt, den jeder verstanden hat: „Wir dachten, wir seien ein Land des Friedens, aber in Wirklichkeit hat unsere Regierung vierzig Jahre lang einen Atomkrieg gegen das eigene Volk geführt.“
War das die Geburtsstunde der Volksbewegung „Nevada -Semipalatinsk“?
Satimgan Sanbaew: Diese Rede von Suleimanow hat jedem deutlich gemacht, welche Folgen solche wahnsinnigen militärischen Vorhaben haben, und daß die Ambitionen der Militärs das eigene Volk und das eigene Land fast vernichtet haben. Die Menschen verstanden das plötzlich. Zwei Tage nach der Rede Suleimanows fand bereits ein spontanes Treffen im Schriftstellerverband von Kasachstan statt. Unsere Räume waren überfüllt. Menschen waren gekommen, die die Rede Suleimanows im Fernsehen gesehen hatten und jetzt aktiv werden wollten. Zum ersten Mal haben sie offen über ihren Schmerz und ihre Probleme gesprochen. Und wir alle, Kasachen, Russe oder andere, haben eine Sprache gesprochen. Unser Schmerz hat uns einander so sehr genähert, daß daraus eine Bürgerbewegung entstanden ist. Keiner Veranstaltung in früherer Zeit, sei es von Partei oder gesellschaftlichen Organisationen, war es gelungen, die Menschen derart zusammenzubringen. Wir glauben, daß wir jetzt eine Art Volkskampf führen, einen Kampf um die eigene Existenz.
Wie kam es zu der Namensgebung Nevada-Semipalatinsk?
S.Sanbaew: Unser Schmerz und unsere Tragödie ist ja nicht nur unser Problem allein. So, wie Tests von Atombomben in Kasachstan stattgefunden haben, geschah es ja auch in Amerika, in Nevada. Daher wollten wir mit der Namensgebung eine Brücke schlagen zwischen zwei Kontinenten, auch zwischen zwei Weltmächten. Mit dieser Friedensbrücke wollen wir den Politikern dieser Länder nicht nur die entsetzlichen Auswirkungen der Tests vor Augen führen, sondern auch die Notwendigkeit, daß diese Tests gestoppt werden.
K.Kuzembaewa: Bei unserem Kongreß in Alama Ata haben wir diese Idee weitergeführt. Wir möchten künftig weitere Namen hinzufügen, die Namen von Testgebieten in China zum Beispiel. Auch dort wohnen übrigens Kasachen in unmittelbarer Nähe. So wurde die Idee geboren, einmal alle Namen von Testgebieten zusammenzuführen, damit weitere Brücken entstehen. Unser Ziel ist das vollständige Verbot von Atomtests.
Weche Reaktionen hat es aus dem Ausland gegeben?
K.Kuzembaewa: Unmittelbar nachdem unsere Bürgerbewegung gegründet worden war, haben wir internationale Verbindungen aufgenommen, vor allem mit Antiatombewegungen, die mehr Erfahrungen mit dem Thema hatten als wir, auch mit der internationalen Organisation Ärzte gegen den Atomkrieg. Wir hatten ja geplant, eine internationale Konferenz durchzuführen, bei der wir vor Experten aus vielen Ländern über unser Problem berichten wollten. So kam es zum Kongreß Ende Mai in Alma Ata. Wenn wir sagen können, daß seit dem 19.Oktober 1989 in Semipalatinsk keine Tests mehr durchgeführt wurden, dann ist das auch ein Sieg unserer Bewegung. Jetzt scheint es, als hörten die Militärs endlich auch unsere Stimme und seien zur Vernunft gekommen.
Das Gespräch führte Ulrich Stewen
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