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Keine Alternative zur Annäherung

Ligatschows Breitseite gegen seinen Generalsekretär auf dem Gründungsparteitag der russischen Kommunisten hat einen Augenblick lang erkennen lassen, welche Bedeutung die internationalen Beziehungen und speziell die „deutsche Frage“ für den Fraktionskampf innerhalb der sowjetischen Machtelite haben. Die führende Figur der „Konservativen“ stellte in den Mittelpunkt ihrer Kritik, daß es weder im Politbüro, noch im ZK der KPdSU eine Diskussion zum Zusammenbruch der realsozialistischen Regime im westlichen Vorhof der Sowjetunion gegeben habe. Speziell in der deutschen Frage habe die Initiative ausschließlich bei Gorbatschow, Schewardnadse und ihrem engsten Mitarbeiterstab gelegen. Ligatschow hatte bereits im März die Vereinigung Deutschlands als einen Faktor „gefährlicher Destabilisierung“ und als „vollständige Annullierung aller Errungenschaften des Zweiten Weltkrieges“ bezeichnet.

Wie stark ist die Unterstützung für solche Positionen im Machtapparat und bei der Bevölkerung der Sowjetunion? Nahezu bei jedem Gespräch nicht nur mit Offiziellen wird man mit einem emotionalen Komplex konfrontiert, dessen Kern das Leid und die Opfer sind, die für den Sieg über Nazi-Deutschland erbracht werden mußten. Aus dieser Haltung erklärt sich nicht nur ein ausgeprägtes Sicherheitsdenken, sondern auch das Gefühl, für die Stationierung sowjetischer Truppen und für die Fortdauer sowjetischer Rechte in bezug auf Deutschland als Ganzes gäbe es eine unerschütterliche moralische Grundlage.

Identitätskrise

Speziell in der sowjetischen Armee wurde und wird diese Haltung noch durch Ideologeme wie die Mission der Sowjetarmeen für die Verteidigung des „Vorpostens des Sozialismus“ angereichert. Gorbatschow hat die Streitkräfte in ein radikal neues Rollenverständnis getrieben und damit in Verunsicherung und Selbstzweifel. „Wie kann die Armee ohne Ideologie ihre Aufgaben erfüllen“, rief auf der russischen Parteikonferenz ein Delegierter aus, als es um die Frage der Auflösung von Parteizellen in der Armee ging. Gorbatschows Rückzugslinie in der deutschen Frage wird in diesem Milieu als doppelter Verrat - am Sozialismus und an den nationalen Interessen - angeprangert. Wie stark diese Vorwürfe sein müssen, läßt sich an Eduard Schewardnadses Nominierungsrede für den 28. Parteitag ablesen. „Ich weiß nicht warum“, sagte er den Kollegen Diplomaten, „aber irgend jemand möchte bei uns einen Keil zwischen die Militärs und die Diplomaten treiben“. Gegenüber der Linie: „keine weiteren Kompromisse!“ legte er dar: „Wenn wir den Sinn des einen oder anderen Zugeständnisses werten, müssen wir auch in Betracht ziehen, welche Situation hätte entstehen können, wenn die Übereinkunft oder das Zugeständnis nicht gemacht worden wäre.“ Und er stellte, bezogen auf die Rüstungsabkommen, aber auch gemünzt auf die deutsche Vereinigung, die Frage: „Wo liegen unsere nationalen Interessen im direkten und weiten Sinne und nicht im indirekten und engen?“

Truppenpräsenz

Hier liegt in der Tat die Schwachstelle der Konservativen. Sie können zwar, wie Schewardnadse kürzlich in seinem Interview enthüllte, der sowjetischen Führung vorwerfen, daß sie nichts gegen das Schwinden der sowjetischen Hegemonie in Osteuropa unternehme. Aber sie verfügen über keine Alternative. Exemplarisch kam dies im Frühjahr in einem Grundsatzartikel der konservativen 'Literaturnaja Rossija‘ zum Ausdruck. Der Schreiber benutzte das Pseudonym „M. Aleksandrov“, das in der Breschnew-Ära verwandt worden war, um offizielle Standpunkte zu verbreiten. „Aleksandrov“ vertritt die Meinung, daß „die Wiedervereinigung Deutschlands das Land automatisch auf den Status zurückführen würde, den es vor dem Entstehen beider deutscher Staaten gehabt hat“ - sprich Unterordnung unter das Besatzungsrecht. Nachdem „Aleksandrov“ die internationalen Abkommen bis Potsdam rekapituliert hatte, kam er zu dem Schluß: „Den Oberkommandierenden der Streitkräfte der Siegernationen wird die Ausübung der obersten Gewalt in Deutschland anvertraut.“

So unrealistisch derartige Szenarien anmuten, vor allem, was die den Militärs zugedachte Rolle in Deutschland betrifft - mit der gegenwärtigen Deutschlandpolitik Gorbatschows werden sie in der Sowjetunion an Anhängern gewinnen. Wenn die Auflösung der Blöcke einer fernen Zukunft überantwortet wird, die alliierten Rechte im vereinten, der Nato zugehörigen Deutschland aber erlöschen, werden die Konservativen sich an die sowjetische Truppenpräsenz in Deutschland klammern.

Christian Semler

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