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„Verpißt euch... Deutschland siegt!“

■ Nach dem 2:1-Sieg gegen Holland: Auf dem Ku'damm dienten mitten in der Nacht die Polen den besoffenen Fußball-Fans als spontanes Feindbild / Rechtsradikale Parolen gegen friedliche Polen-Touristen / Polizei griff nur zögernd ein

Grölend, hupend, die deutsche Fahne schwingend fahren die Fans den Ku'damm auf und ab. „Deutschland - Sieg!“ - das dumpfe Schreien des Publikums im Fußballstadion setzt sich in der Berliner City fort.

Während am Ku'damm/Ecke Knesebeckstraße die Beamten von zwei Polizeibussen mit einem Auffahrunfall kleineren Ausmaßes beschäftigt sind, haben die Fans am Kranzler und den Ku'damm entlang freies Spiel: Sie rasen die Straße entlang, sitzen auf Kühlerhaube und Heck von Cabriole, Mercedes, Golf und BMW, skandieren, recken Bierflaschen in die Höhe: Deutsch-Nationale.

0.30 Uhr, die Fahrbahn am Kranzler ist dicht, mitten in den randalierenden tobenden Massen stecken zwei Reisebusse mit polnischen Touristen, drangsaliert von Deutschland-Fans.

Die Fußball-Fans „feiern“, indem sie auf die Dächer der Busse steigen, trampeln, Deutschland-Fahnen schwingen, Schwarz-Rot-Gold vor die Windschutzscheiben spannen. Von rechts und links fliegen Flaschen und spitze Gegenstände gegen die Scheiben.

Zufällig anwesende Passanten, die sich schützend vor die Busse stellen, werden bedrängt mit den Worten: „Verpißt euch, wir haben was gegen die Polenschweine, weil wir Deutsche sind. Und Deutschland siegt. Totmachen sollte man euch, wir sind Rechtsradikale und wir werden euch zeigen, wer hier die Macht hat.“

30 Meter entfernt auf entgegengesetzter Fahrbahn parkt eine Wanne mit Blickrichtung auf die rasenden Fans. Die am Steuer sitzende Polizistin wirkt auf den Hinweis einer Passantin, daß nur wenige Meter weiter Menschen bedroht werden, geradezu gelangweilt: „Wir haben nichts gesehen, is doch alles ganz friedlich. Was sollen wir denn machen?“ Und fährt von dannen.

Es ist bereits ein Uhr; inzwischen ist die Masse damit beschäftigt, einen der Busse zum Schaukeln zu bringen. Erst nach Vorzeigen meines Presseausweises zeigt sich ein Einsatzleiter dazu veranlaßt, etwas zu unternehmen.

Die einzige Wanne vor Ort (plus ein VW-Bus der Polizei und mehrere hundert Fans, die die Polen-Busse umringen) rückt mit Blaulicht, aber sehr behutsam in Richtung Polen-Busse. Erst gegen 1.30 Uhr fahren zwei weitere Wannen vor, um die polnischen Busse bereits an der Uhlandstraße umzuleiten.

„Wir siegen, Deutschland ist wieder Wer“ - „Sieg! Sieg über Polen“ - die Bedrohung am Sonntag abend war das „Feiern“ nach dem Sieg der Beckenbauer-Elf gegen Holland. Der Kommentar eines Passanten: „Deutschland muß so schnell wie möglich ausscheiden aus dieser Weltmeisterschaft.“

Michaela Gericke

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