: Sozialhilfe: Nur ein Drittel der Wurst
■ Proteste vor dem Rathaus / „Ohne Kinder ist das Leben langweilig“
„Ein Drittel nur ist diese Wurst hier mein!“ Was auf einem Transparent höhnisch-traurig aufgemalt war, demonstrierten zirka 50 SozialhilfeempfängerInnen gestern morgen vor dem Bremer Rathaus: Mit riesigen Baumsägen näherten sie sich einem buntbestückten Warenkorb vor der Haustür des Bürgermeisters, griffen sich Orangensäfte, Zeitungen, Kleidungsstücke und Spielzeug und sägten die einzelnen Teile kurzerhand durch. Die Passanten staunten nicht schlecht. „Wollen Sie vielleicht ein Schlückchen Sekt“, lud eine Dame höflich zum Umtrunk ein und schüttete erst einmal zwei Drittel der Flasche auf den Boden, „ich bin allerdings etwas knapp, nur ein Drittel“, entschuldigte sie sich für die kleine, verbliebene Restpfütze.
Die SozialhilfeempfängerInnen agierten mit Galgenhumor. Vom 1. Juli an wird ihnen nämlich vom neuberechneten Erhöhungsbedarf bei der Sozialhilfe nur ein Drittel ausgezahlt. Das zweite Drittel soll erst im Juli 1991 folgen, der Rest ist auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
Durch das neue Statistikmodell, das den umstrittenen Warenkorb als Berechnungsgrundlage für den Regelsatz der Sozialhilfe ablöst, werden einem alleinstehenden Haushaltsvorstand statt bisher 428 Mark vom Juli an 451 Mark ausbezahlt. „Tatsächlich stehen ihm aber 506 Mark zu“, erklärte Rainer Sobota von der Aktionsgemeinschaft arbeitsloser BürgerInnen (AGAB). Die Behörde habe bei den neuen Berechnungen einen falschen Preissteigerungsindex gewählt. „Die haben vom Basisjahr 1983 aus die allgemeinen Lebenhaltungskosten hochgerechnet“, argumentierte der Arbeitslosenberater. „Stattdessen hätte der regelsatzrelevante Index von 13,9 Prozent angerechnet werden müssen.“ Unter die Lebenshaltungskosten fallen nämlich auch die Leistungen und Produkte, die Sozialhilfeempfängern gar nicht zustehen und deshalb statistisch auch nicht berücksichtigt werden dürfen: Restaurantbesuche, Auto, Theater etc.
Die kommende Anhebung ist vom zu wenig nur ein Drittel, doch damit nicht genug. Jugendli
che SozialhilfeempfängerInnen zwischen 18 und 24 Jahren, die alleine wohnen, bekommen in Zukunft nur noch 406 Mark, das sind nur noch 90 Prozent ihres bisherigen Satzes. Für ein Kind unter sieben Jahren zahlt das Sozialamt künftig fünf Prozent weniger, wenn es mit nur einem Elternteil zusammenlebt. „Gegen alle diese Änderungen sollen die SozialhilfeempfängerInnen Widerspruch einlegen“, forderte Jürgen Sobota gestern zu einer koordinierten Widerstandsaktion auf. Die Arbeitsloseninitiativen halten in ihren Beratungstellen entsprechende Formulare bereit.
Senatsdirektor Christoph Hoppensack erklärte, daß Bremen mit der Drittelung der Erhebungssätze an die Beschlüsse der Länderminister gebunden sei.
„Wir werden ja geradezu bestraft dafür, daß wir unsere Kinder bekommen haben“, erregte sich eine Frau über die Beschneidung der Kindersätze, doch der Senatsdirektor sah das Leben von seiner schönen Seite: „Ich will Ihnen mal was sagen: Ohne Kinder wäre das Leben langweilig“. Markus Daschne
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen