Kein Film für späte Stunden

■ „Jugendsünde“ von Radovan Tadic

Ohne Geschichte(n) können 93 Minuten unendlich lang sein. Auch wenn aufdringlich schöne Schwarzweißaufnahmen für Momente gefangennehmen, allzu gefallsüchtig verlieren sie sich in ihrer kunstvoll inszenierten Künstlichkeit. Um die Augen offen zu halten, gilt es, hinter bedeutungsvollen Zeichen, den allerletzten Gründen und Zusammenhängen des Seins nachzuspüren. Oder dem Weltschmerz zu huldigen. Ansonsten bliebe der Schlaf.

Therese (Muni), eine alte Dame mit Cockerspaniel und Kompotthütchen, raunt ihren früheren Dienstherren via Telefon ein geheimnisvolles Wort ins Ohr. Ihr „Shanthi“ treibt die Männer in den Selbstmord. Antoine (Francis Frappat), ein junger Poet, ist melancholisch. Nachts arbeitet er in einer Druckerei, in der Metro liest er Gedichte von T.S. Eliot. Fran?oise (Geraldine Danon), eine junge Dame, braucht für ihr seelisches Gleichgewicht mindestens zwei Liebhaber. Mehr oder weniger gleichzeitig.

Therese, Antoine, Fran?oise, drei Seelen, Mansardentür an Mansardentür, in einem kafkaesken Haus. „Die Ähnlichkeit ihres Leidens, ihrer Einsamkeit, ihre Suche nach einem reinen Zustand in einer von moralischem Verfall bedrohten Welt ist das, was diese drei Personen vereint“, so Regisseur Tadic. Therese, Fran?oise, Antoine - der eine kommt, die andere geht, die dritte versucht zu kuppeln. Als sich Wege kreuzen, gibt es für einige Zeit ein gewisses Hin und Her.

Ansonsten sind die Protagonisten bemüht, mit belegter Stimme bedeutungsvolle Sätze zu artikulieren. Therese im Telefonhäuschen zu ihrem letzten Opfer: „Überlassen Sie sich dem Schmerz, damit der Tod Sie nicht erschüttert.“ Fran?oise beim Öffnen von Antoines Gürtelschnalle: „Je fähiger man wird, sich zu vergessen, desto fähiger wird man zu lieben.“ Antoine innerlich monologisierend aus dem Off, während er der Ärztin Anne dackeltreu (oder melancholisch?) in die Augen blickt: „Hatte ihr Leid denn nicht seine Ursache in dem meinen?“ Ab und an werden die dämmrigen Worte von wehklagenden Cello- und Geigenklängen (Brahms, Bach) begleitet.

Zwischen den Zeilen vergeht Zeit, im Film allzu schnell, auf den Kinosesseln ach so langsam. Therese stirbt unbemerkt, Fran?oise ist nicht mehr in den Bildern, Antoine zieht zu Freunden, um sich vor einem Flipperautomaten über die Reinkarnation der Kugel durch das Schwarze Loch Gedanken zu machen. Höhepunkte tiefgründiger Diskursivität, einzig durch das Ende des Filmes übertroffen.

Im British Museum begegnen wir den wandernden Seelen von Therese und Antoine. (Aus dem Presseheft ist zu entnehmen, daß ein zur Unkenntlichkeit zerquetschtes Blechpaket in der Ecke einer Autowerkstatt mit Fran?oise in Verbindung gebracht werden kann: „Sollte sie darin gestorben sein, so blieb ihr wohl keine Zeit mehr zu einer Reinkarnation.“) (Ha, Ha, Ha! d. ALF) In Anbetracht einer Glasvitrine mit Manuskripten von T.S. Eliot wiederholt Therese in Jungmädchengestalt das magische Wort. Ihr „Shanthi“ treibt den als kleinen Bruder wiederverleiblichten Antoine in die Melancholie. Und gibt den Zuschauern ein letztes Rätsel mit auf den Heimweg.

Michaela Lechner

Radovan Tadic: Jugendsünde. Mit Francis Frappat, Muni, Geraldine Danon. Frankreich 1989, schwarzweiß, 93 Min.