: „In Ungarn existiert ein großes linkes Wählerpotential“
Istvan Eörsi, einer der führenden Köpfe der ungarischen Dissidenz, sieht einen Grund für die Wahlniederlage in der Aufgabe linker Positionen ■ I N T E R V I E W
taz: Der Bund der Freien Demokraten (SzDSz) steht nach den Wahlen in Ungarn in der Opposition. Diese Partei soll nun den Staatspräsidenten stellen. Das ist doch ungewöhnlich, vor allem, wenn man bedenkt, mit welcher Schärfe das jetzt regierende Demokratische Ungarische Forum im Wahlkampf die Freien Demokraten angegriffen hatte. Wie kommt denn dieser Kompromiß nun zustande.
Istvan Eörsi: Nach den Wahlen - die jetzigen Regierungsparteien hatten schon ihre Koalitionsabsprachen getroffen - setzten sich jeweils zwei führende Vertreter der beiden großen Parteien zusammen und trafen Vereinbarungen hinter dem Rücken aller anderen Parteien. Die Freien Demokraten stimmten zu, daß - anders als bisher - eine einfache, statt einer Zweidrittelmehrheit für Gesetzesänderungen notwendig sein soll. Lediglich bei verfassungsrechtlichen Fragen soll es bei der alten Regelung bleiben. Das hilft der Regierung. Dafür erhielten wir den Posten des Staatspräsidenten. Die Pressefrage war ein weiterer entscheidender Punkt. Um den Status des staatlichen Fernsehens und Rundfunks zu regeln, braucht man weiterhin eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Im Ganzen ist der Kompromiß gut. Die Form aber erinnert an alte Zeiten.
Janos Kis, Philosoph und führender Vertreter des Bundes der Freien Demokraten, hat eure Partei in Paris als linke Partei beschrieben. Zu Hause hat er das weit von sich gewiesen. Warum wollt ihr zu Hause als rechts erscheinen.
Ich habe ihn das auch gefragt. Er meinte, in Ungarn wird links mit den Kommunisten gleichgesetzt. Wenn wir sagen, wir seien links, würden wir unsere Anhänger verlieren. Die zentrale Frage für unsere Partei ist, wie sollen wir uns verhalten? Sollen wir der Taktik von Kis, den ich für einen der klügsten Politiker unseres Landes halte, folgen, oder sollen wir das „Links“ auf uns nehmen und uns ganz sorgfältig von den Kommunisten abgrenzen, die meiner Meinung gar nicht links sind?
Hältst du deine Partei nun für links?
In einer poststalinistischen Diktatur konnten wir uns nicht nach Weltanschauungen, sondern nach moralischen und aktuell politischen Maßstäben organisieren. Anfang der achtziger Jahre haben wir - eine kleine Gruppe von Intellektuellen den allgemein akzeptierten Konsens mit dem Kadarsystem aufgekündigt. Das war kein weltanschaulicher Standpunkt. Das konnten die verschiedensten Leute machen.
Bei uns haben fast alle eine sozialistische und kommunistische Tradition. Sie haben sich weiterentwickelt. Viele von ihnen wurden Liberale. Unter ihnen einige absolut rechts eingestellte Thatcheristen. Andere wurden Sozialdemokraten, wieder andere blieben Sozialisten. Alle wollten kompromißlos mit dem Einparteienstaat aufräumen. Und das Dritte, das ich für eine positive Bestimmung halte, ist, daß wir ungeteilt für die Menschenrechte eintraten.
Beim Ungarischen Demokratischen Forum gibt es ebenfalls keine weltanschauliche Einheit. Ein Konglomerat von ganz rechts, fast schon faschistisch bis hin zu Liberalen und linken Populisten, die einen dritten Weg anstreben.
Wenn man das so hört, heißt das doch auch, das Parteiensystem ist noch nicht voll entwickelt. Müssen sich die Parteien in Ungarn im Laufe der nächsten Jahre neu formieren?
Wahrscheinlich werden viele Menschen die großen Parteien verlassen und sich neu gruppieren. Ich bin ganz sicher, daß man nicht in unserem Land weiterleben kann, ohne eine ausgesprochen linke Partei zu haben. Der jetzigen Sozialistischen Partei fehlt trotz ihrer zehn Prozent die notwendige Glaubwürdigkeit dazu.
Wir haben aber auch eine Wahl verloren. Es gibt eine große Wählerschaft, die gar nicht wählen konnte, weil wir das Wort „links“ nicht auf uns genommen haben, obwohl viele unserer Führer politisch links stehen. Die Leute, die eine sozialistische oder eine sozialdemokratische Partei gewählt hätten, blieben dem zweiten Wahlgang fern. Vor der Wahl haben sich bei einer Meinungsumfrage 25 Prozent bis 30 Prozent der Befragten als Sozialdemokraten bezeichnet. Um andere Wähler zu gewinnen, haben wir viele Erwartungen unserer eigentlichen Wähler enttäuscht.
Ich habe das Problem in einem Artikel angesprochen. Dieser Artikel - einer meiner besten in der letzten Zeit - ist nicht gedruckt worden. Obwohl ich mich seit dem Sturz der KP -Herrschaft vor Schreibangeboten kaum retten kann. Dieser Artikel, in dem ich beide großen Parteien scharf kritisiert habe, wurde von zwei Redaktionen zurückgegeben. Die alte Zensur ist zwar abgeschafft, aber es gibt eine andere Zensur. Die Zensur der klugen Menschen, die immer die Nützlichkeitsaspekte hervorheben. Man wird heute nicht mehr allgemein verboten, sondern nur manchmal nicht gedruckt. Aber damit kann ich leben. Ich bin ein alter Mann. Ich kann weiterhin in der Opposition bleiben, auch in meiner eigenen Partei, solange ich noch drin bin.
Interview: Peter Huth
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