: Deutsch in Mark und Bein
■ Die Ostberliner im Deutschmark- und Weltmeister-Fieber: eine brisante Mischung
Mitte. Am Samstag noch war die Halbstadt geradezu gespenstisch menschenleer. Nun am Sonntag nachmittag scheinen plötzlich sämtliche Familien der Deutschmark Demokratischen Republik unterwegs zu sein, um das über Nacht gekommene Wunder am Alex zu bestaunen: Warenflut statt Schwarzmarkt. Schwarz ist der Alexanderplatz jetzt von Menschen. Schlangen an allen Imbißbuden, die erste D-Mark will ausgegeben werden, und sei es beim größten Nepper, der für das Glas Mineralwasser 3,80 DM haben will. Zu den Schaufenstern am Konsumbunker „Centrum“ mit den neuen westlichen Glitzerwaren ist fast kein Zugang mehr. Gleich in zwei Reihen - eine links ums ganze Gebäude, eine rechts rum
-schieben sich die Leute den Auslagen längs. Rotkohl für 1,19 DM, Multivitaminsaft 1,89 DM, Elektroherd 1.549 DM, alles da. Im ungläubigen Staunen der Menge geht eine ganze Welt unter. Deutsche Geschichte, SED, Stasi, Alublech warum jetzt noch daran denken, wir sind wieder wer. Die Arbeiter, die die letzte müdblaue DDR-Dekoration herausschaffen, werden angefeuert: „Ja, raus mit dem Müll!“
In der Mitte des Alex lagern ein paar Roma, Besitzlose unter plötzlich Besitzenden. Einer sucht, warum auch immer, in der Sitzreihe längs des Kaufhauses eine Steckdose. Sofort stellen sich mit drohender Gebärde drei Jugendliche auf: „Nix da! Das ist deutscher Strom, verstehste? Nix für Ausländer!“ Die Bubis, kaum 15 Jahre alt, sind nicht etwa Skins, es sind ordentliche DM-Inhaber.
Die Szene scheint nicht ohne Symptomatik. Über den quirlenden Menschen lagert eine unsichtbare Wolke aggressiver Zukunftsangst, die sich sofort entlädt, wenn jemand mit einer Nadel hineinsticht. So wie die Flugblattverteilerin der „Marxistischen Gruppe“, einer studentischen Sekte. Sie wird von heftig wütenden und keifenden Leute umzingelt, weil sie es gewagt hat, die Segen der Marktwirtschaft anzuzweifeln. So etwas will man nicht hören, gerade heute nicht. „Ich laß mir meine Kritik nicht abkaufen“, schimpft sie zurück, „bei uns reißt man zum Beispiel türkische Familien auseinander...“ Hohngelächter. „In Kreuzberg, wa? Da kann man eh nich mehr treten vor lauter Ausländern.“
Um fünf Uhr, Anpfiff des Fußballspiels BRD-CSFR, leert sich der Alex unmerklich. In den umliegenden Kneipen, in denen Farbfernseher laufen, übt man sich in den neuen Deutschmark -Deutschland-Gefühlen. Bei jeder verschossenen Chance von Beckenbauers Elf geht ein Stöhnen durch den Raum. Und dann das erste Tor! Hurra! Alles springt von den Sitzen! Deutschland Freibier!
usche
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