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Grepos: „Drangsaliert“ in die Union

■ Die letzte Ost-Schicht am Checkpoint Charlie: Zucht und Ordnung bis null Uhr / Kommandant Löbel war 38 Jahre SED-Diener, doch auch die Stunde Null ist für ihn nicht die Zeit für Zäsur

Aus Berlin Dirk Wildt

Die Stimmung am Checkpoint Charlie ist auf dem Nullpunkt: Eine Stunde vor Beginn der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sind die zehn wachhabenden Ostberliner Grenzsoldaten bis unters Kinn zugeknöpft. Wenige Meter hinter der weißen Demarkationslinie stehen sie um ihr kleines Grenzhäuschen versammelt und antworten mürrisch auf Fragen von Pressevertretern. Die beiden Flaschen Sekt, die der taz-Reporter mitgebracht hat, werden im gläsernen Grenzhäuschen unter der Spüle versteckt - weil der „Chef“ gekommen sei. Um Mitternacht, wenn auf dem zwei Kilometer nahen Alexanderplatz Volksmassen in Sylvesterlaune den faktischen Anschluß der DDR an die BRD feiern, soll der Kontrollposten an zwei Volkspolizisten „ordentlich“ übergeben werden. Kein Alkohol darf herumstehen und von aufgeweichter Disziplin zeugen. Im Morgengrauen um sieben Uhr hatte für die Soldaten die letzte 24-Stunden-Schicht angefangen. Offenbar überraschend war der „Chef“, Oberstleutnant Karl Löbel, aufgetaucht. Seit 38 Jahren diente der dickliche, 1,65 Meter kleine Mann dem SED-Regime als Offizier, davon die letzten 17 Jahre als Grenzkommandant am Übergang Prinzenstraße. Seit März wacht er am „Übergang Friedrich-/Zimmerstraße“, wie die Diplomatenschleuse auf der Ostseite des ehemaligen Checkpoint Charlie korrekt und nüchtern genannt wird. Das nahende Ende seines Berufes findet Löbel für sich persönlich „unschön“ - wegen der drohenden Arbeitslosigkeit. Beiläufig stellt er fest: „Ich habe auf der falschen Seite gedient.“

Doch an die Flucht auf die „richtige“ Seite hat der Oberstleutnant „nie“ gedacht: „Ich hänge zu sehr an meiner Familie.“ Und trotz Zusammenbruchs des repessiven Sozialismus sieht Löbel keinen Grund für eine Zäsur seiner Rolle. Jedenfalls sei in seinen 17 Jahren an der Prinzenstraße „nie ein Schuß gefallen“, behauptet Löbel. Auch ansonsten kann er sich an nichts erinnern, für das er sich Vorwürfe machen müßte. „Für den Schießbefehl“, sagt Löbel einem amerikanischen Journalisten, „müssen die Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen werden.“ Wer denn verantwortlich sei, will der Amerikaner wissen und Löbel kommt ins Grübeln. Dann fällt dem braungebrannten Kommandanten aber doch noch ein Schuldiger ein: „Honecker.“

Umso mehr die Uhrzeiger der Stunde-Null-Union nahen, desto mehr Schaulustige tauchen unter dem Nachthimmel an Berlins berühmtestem Übergang auf. Die Presse schwirrt kurz vor null Uhr wie ein Bienenvolk um das Grenzhäuschen herum. Doch anstelle Honig sind nur zwei Soldaten hinter Glas, stempeln aus einem offenen Fenster ein allerletztes Mal in grün-lila Ton Hammer, Sichel und die Buchstaben DDR in gezückte Pässe.

Das Soldatenvolk, das bis zum Schluß den Verkehr regeln und von Schaulustigen geleerte Flaschen einsammeln muß, ist auch nach acht Monaten Demokratieüben unfähig zu rebellieren. Ein junger Soldat motzt zwar, daß Löbel auch an diesem Tag „Chef spielt“ und „uns drangsaliert“, doch jeder macht brav seinen Dienst. Oberstleutnant Löbel haut kurz nach Anbruch der Währungsunion ab. Seine Kollegen dürfen ihren Dienst erst um sieben Uhr morgens beenden. Doch inzwischen wechselt zwischen ihnen und besoffenen West-Zöllnern eine Flasche Billig-Brandy. Endlich kommt Stimmung auf. Sekt gibt es trotzdem nicht. Doch die beiden mitgebrachten Flaschen sind nicht mehr im Versteck unter der Spüle.

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