Chaos mit Kalkül?

■ Behördengang in einer Weltstadt: Über die Zustände bei der Berliner Ausländerbehörde

Wedding. Auch ich gehöre zu denen, die sich Gedanken über das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft machen, die darüber reden und schreiben. Heute morgen hat mich die Realität eingeholt. Meinem fremden Paß verdanke ich es, daß ich nicht auf ewig reden und schreiben kann, ohne einen weiten Bogen um jenes Amt zu machen, das nicht mit dem Traum von einer multikulturellen Gesellschaft beschäftigt ist, sondern mit dem Abstempeln ihrer Realitäten: die zentrale Ausländerbehörde in West-Berlin.

Ich hatte eine Lappalie zu erledigen - ich mußte meinen Umzug von Augsburg nach Berlin melden. Dementsprechend war ich auf einen Besuch von etwa dreißig Minuten eingestellt. Als ich nach einem viertelstündigen Spaziergang durch eine Industrielandschaft vor einem abgelegenen Gebäudekomplex stand, war ich unvermutet Teil eines Szenarios, dessen Besichtigung ich allen, die sich mit Ausländerpolitik beschäftigen, wärmstens empfehlen möchte.

Der Eingang der Behörde wurde von Polizisten in Kampfanzügen abgeriegelt, die den Eindruck machten, als stünden sie kurz vor einem Einsatz. Vor ihnen drängelte sich die multikulturelle Gesellschaft: Flüchtlinge aus Rumänien, Familien, Frauen mit kleinen Kindern, Schwarze, Asylbewerber und hier ansässige Ausländerinnen und Ausländer wie ich. Keiner verstand, warum man nicht ohne weiteres ins Gebäude gelangen konnte, wo einen doch, wie sich später herausstellen sollte, ohnehin mehrere Stunden Wartezeit in überfüllten, stickigen Räumen erwarteten - egal, welche Belanglosigkeit zu erledigen war. Zwei entnervte Beamte und eine Beamtin kämpften förmlich mit der aufgestauten Menge. Die Polizisten in Kampfmontur waren damit beschäftigt, die Einfahrt freizuhalten. Wer sich einen ungehinderten Eintritt in die Behörde verschaffen wollte, wurde wieder in die Menge der Wartenden zurückgewiesen.

Auf dem Gelände selber lagerten hier und da Gruppen von Wartenden aller Nationalitäten. Zu verschiedenen Eingängen hin waren mit Hilfe von verschiebbaren Eisenabsperrungen Gänge gelegt - wie für eine schwer kanalisierbare Viehherde. Ich überlegte einen Moment, ob ich mich nicht vielleicht in einem Film über Rassenauseinandersetzungen in den amerikanischen Südstaaten befand oder vor einer Kaserne statt vor der Ausländerbehörde der Stadt West-Berlin, regiert von einem SPD/AL-Senat. Denn wer sonst trägt die Verantwortung für die militante Stimmung, die vor dieser Behörde herrscht, für die Ängste und Aggressionen, die dort aufgebaut werden bei denen, die diese Behörde beanspruchen müssen, und bei denen, die tagtäglich dort arbeiten? Die abgeschiedene Lage der Ausländerbehörde erschien plötzlich als raffinierte Präventivmaßnahme, die der Bevölkerung Berlins den Anblick dieses Szenarios ersparen soll.

Ist dieses martialische Polizeiaufgebot berechtigt, oder wird damit die Angst vor dem Fremden sublimiert? Kann in einem demokratischen Rechtsstaat der Zugang zu einem Amt für zivile Angelegenheiten von der Polizei geregelt werden? Ist es nur die Unfähigkeit von Beamten, wenn die Organisation in einem solchen Amt zusammenbricht? Oder gibt es vielleicht andere, verstecktere Motive dafür, daß die Behörde gesperrt wird, daß Eingänge geschlossen werden, daß ein heilloses Chaos entstehen muß?

„Berlin ist ein Chaos“, sagte mir ein älterer Beamter in der Behörde. Und diese Behörde soll dieses Chaos symbolisieren, dachte ich. Beamte hinter den Schreibtischen hervorholen, damit sie am Tor den Zugang regeln, Polizei aufmarschieren lassen - ist dies Chaosbekämpfung oder -erzeugung?

Ich schaffte es schließlich nach mehreren Stunden hineinzukommen. Der Pförtner, der einzige, der einen von der ganzen Situation betroffenen Eindruck machte, empfahl mir, das nächste Mal bereits um sieben Uhr zu kommen. Dann hätte ich sichere Chancen auf eine Wartemarke...

Zafer Senocak

geboren 1961 in der Türkei, lebt seit 1970 in Deutschland und ist freier Autor und Übersetzer