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Die „Drei Schwestern“ streikten mit

■ Stein und die Schaubühne in Moskau

Die Zuschauer in den sowjetischen Theater-, Kino- und Konzert-Sälen waren am vergangenen Donnerstag kein bißchen ärgerlich, als die Schauspieler und Sänger eine halbe Stunde nach Vorstellungsbeginn verstummten und die Leinwände erloschen. Mit dem landesweiten Warnstreik, der allerdings nur fünf Minuten dauerte, wollten die sowjetischen Künstler die öffentliche Aufmerksamkeit, insbesondere die der Volksabgeordneten und selbst des Präsidenten Gorbatschov „auf den katastrophalen Zustand der Kultur in der Sowjetunion“ lenken. Geld für die Kultur gibt es nämlich nur noch soviel, wie nach den Investitionen in Wirtschaft und Soziales übrigbleibt. Mit diesem „Restprinzip“ der Finanzierung soll nun Schluß gemacht werden - so war die Forderung der Künstler.

Solidarisch mit sowjetischen Kollegen zeigten sich auch die Schauspieler der „Schaubühne am Lehniner Platz“, die sich gerade in diesen Tagen in der Sowjetunion zum Gastspiel aufhalten. Am selben Abend hüllten sich drei tschechowsche Schwestern in fünf Minuten Schweigen.

Es ist schon ungewöhnlich, wenn nach nur anderthalb Jahren das gleiche Theater in die gleiche Stadt mit dem gleichen Stück wiederkommt, um es neunmal hintereinander zu spielen. Aber damals, im Winter 1989, als die Schaubühne zum ersten Mal Drei Schwestern in der sowjetischen Hauptstadt zeigte, war das Theater von so vielen bestürmt worden, daß Peter Stein und seine Truppe daraufhin ohne viel Federlesens ein Wiedersehen versprachen.

In der Sowjetunion kennt und ehrt man Peter Stein vor allem als Tschechow-Regisseur. Moskauer Theaterkünstler, die ich in den Pausen befragte, priesen die Aufführung von Drei Schwestern und beklagten das Fehlen eigener halbwegs gelungener Inszenierungen. Die Wochenzeitung 'Freizeit in Moskau‘ schrieb: „Stein, ein gebürtiger Deutscher, verstand es, hinter das Geheimnis der 'enigmatischen russischen Seele‘ zu kommen. Ihm liegen der ewige russische Schmerz und die nostalgischen Wirrungen der russischen Intelligenz so nah, daß er gemeinsam mit den Schwestern Prosorow in der schläfrigen Einöde der russischen Provinz unter dem Ausbleiben der Nachfrage nach ihren Talenten, ihrem Geist und ihrer Bildung leidet...“ Im nächsten Jahr will Stein seine Inszenierung des Kirschgarten nach Moskau bringen und irgendwann wohl auch Platonow aufführen. „Alle 5-6 Jahre muß man Tschechow machen“, sagt der 52jährige, „um immer wieder den eigenen Standpunkt in der Kunst, aber auch die moralische Position im eigenen und im gesellschaftlichen Leben zu überprüfen“.

Mit sowjetischen Gegenwartsautoren tut er sich dagegen schwer. Obwohl er immer wieder versucht hätte, ein Stück von sowjetischen Zeitgenossen aufzuführen, seien sie so kompliziert gewesen, mit so seltsamen, exotischen sowjetischen Realitäten verbunden, daß er nicht wußte, wie er sie im Westen hätte zeigen können. Eine Arbeit in der Sowjetunion reizt Stein seit längerem. Er hat sogar bereits einen Vertrag unterschrieben. Es handelt sich um die Orestie, die Stein ursprünglich in der ehemaligen Reitermanege, heute Ausstellungshalle, an der Kremlmauer inszenieren wollte. Es ging nicht, angeblich „aus Organisationsgründen“. Nun sucht er nach einem anderen Platz. Auf alle Fälle will er - und das sei, betont Peter Stein, das entscheidende an seiner Orestie - den Zuschauern ungefähr die Situation bieten, wie sie die Griechen in ihren Theatern hatten. Ein Stadion wäre zuviel, aber er denke zum Beispiel an das Haus der Roten Armee.

Dimitri Tultschinski (Nowosti)

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