: IG-Chemie: 100 Jahre auf dem rechten Weg
■ Industriegewerkschaft Chemie feiert in der BRD das 100jährige Bestehen der Organisation / Von der proletarischen Gewerkschaft zum rechts-sozialdemokratischen Verband / Festveranstaltung im Congress-Centrum von Hannover
Von Martin Kempe
Eröffnet wird mit einer Fanfare. Danach die Begrüßungsworte des Vorsitzenden Rappe und dann intonieren die Männerchöre aus den Chemie-Konzernen BASF, Bayer und Hoechst feierlich eine Gesang mit dem programmatischen Titel „Welle des Lebens“. Die IG Chemie-Papier-Keramik feiert heute mit einer Festveranstaltung im Congress-Centrum in Hannover ihren 100. Geburtstag. Und eine „Welle des Lebens“ vermeint auch diese Industriegewerkschaft der BRD zu spüren, seit die deutsch -deutsche Entwicklung ihr die Erfüllung eines langgehegten Wunsches ermöglicht hat.
Die Bauherren hatten 1955 in den Grundstein einmauern lassen: „In das neue Bürohaus nehmen wir mit hinein die Hoffnung auf die baldige Zusammenführung aller deutschen Arbeitnehmer in freien und unabhängigen Gewerkschaften.“ Noch in diesem Jahr soll es soweit sein, verkündete Hermann Rappe schon im April bei der Eröffnung eines Zweigbüros in Ost-Berlin. Dann wird der autokratische Herrscher über die Chemiegewerkschaft auch die Interessen jener vertreten, die mehr als die meisten anderen DDR-Beschäftigten von Arbeitslosigkeit bedroht sind: der Beschäftigten aus den hoffnungslos verseuchten und heruntergekommenen Chemie -Regionen der DDR.
Rappe hat schon angekündigt, daß er dies auf seine besondere Art zu tun gedenkt: sozialpartnerschaftlich bis in die Knochen, fest verpflichtet dem industriellen Wachstumsmodell, in scharfer Abgrenzung zu den Ökologen, jedenfalls soweit sie sich politisch artikulieren. Kooperation statt Konfrontation mit der Industrie - das gehört nun schon seit Jahren zum ehernen Bestand des politischen Selbstverständnisses der Industriegewerkschaft Chemie. Und ihr Vorsitzender, seit 1982 im Amt, wird nicht müde, dies immer und immer wieder zu verkünden.
Die Industriegewerkschaft Chemie organisert heute rund 670.000 Mitglieder. Sie ist aus dem am 2. Juli 1890 von 29 Delegierten gegründeten „Verband der Fabrik-, Land- und gewerkblichen Hilfsarbeiter Deutschlands“ hervorgegangen. Der „Fabrikarbeiterverband“, wie er sich kurz nannte, wollte alle Arbeiter aufnehmen, die laut Statut „kein bestimmtes Handwerk betreiben“. Am Anfang stand also ein Verband für die Deklassierten des Industrialisierungsprozesses, für die Hilfsarbeiter ganz unten in der sozialen Hierarchie. Der Verband erlebte einen steilen Mitgliederzuwachs und zu Anfang der zwanziger Jahre waren über 730.000 Arbeiterinnen und Arbeiter darin organisiert. Im Verlauf der Weltwirtschaftskrise sackte er wieder auf 440.000 im Jahre 1930 ab. Das vorläufige Ende kam am 1. April 1933: Das Gebäude des Fabrikarbeiterverbandes in Hannover wurde von einem SA-Kommando gestürmt, Funktionäre wurden verhaftet, Unterlagen beschlagnahmt.
Im Dezember 1946 wurde die Organisation wieder gegründet, nun aber als Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik. Der damalige Vorsitzende Gefeller, einer der großen Nachkriegsgewerkschafter, betrieb eine offensive Tarifpolitik, die auch vor Konflikten mit dem Kapital nicht zurückschreckte. Der Erfolg blieb nicht aus: 13. Monatsgehalt, vermögenswirksame Leistungen, zusätzliches Urlaubsgeld wurden durchgesetzt.
Inzwischen ist von dieser Politik in der Organisation nichts mehr übrig. Die Formierung der IG Chemie zur rechts -sozialdemokratischen Richtungsgewerkschaft wurde innerorganisatorisch mit Brachialgewalt durchgesetzt. Von der Ausschaltung der innergewerkschaftlichen Opposition um das Vorstandsmitglied Plumeyer 1980, die Zerschlagung der aufmüpfigen Verwaltungsstelle Hannoversch-Münden bis zum Ausschluß der Vertrauensleute von Boehringer in Mannheim, die sich erdreistet hatten, über die Besetzung der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat ihres Konzerns mitreden zu wollen, zieht sich eine Kette von Disziplinierungen und Säuberungen durch die jüngste Geschichte der Gewerkschaft. Heute gibt es innerhalb der IG Chemie keine relevante innergewerkschaftliche Oppositon mehr.
Genützt hat es nichts. Die Metaller und Drucker setzten sich gegen das 40-Stunden-Tabu der Unternehmer durch und ein Jahr später mußte der inzwischen verstorbene IG-Chemie -Politiker Mettke um seinen Judaslohn fürchten: Die Chemie -Industriellen wollten ihm keine vorzeigbare Vorruhestandsregelung geben. „In welch einer Position wir hier sind, das mögen Sie doch bitte einmal überdenken“, flehte er die Arbeitgeber in der Tarifverhandlung an, nun die Gegenleistung für die Schützenhilfe ein Jahr zuvor auch zu erbringen.
Aufs Betteln verlegte sich Rappe auch für seine zukunftigen Mitglieder in der DDR. Die Chemie-Konzerne sollten schließlich nicht nur am Markt, sondern auch an der Arbeit in der DDR interessiert sein, meint er. Aber die sind offensichtlich mehr an kühler Kostenkalkulation als an sozialpartnerschaftlichen Sprüchen interessiert und halten sich mit Investionen zurück. So muß Hermann Rappe sich vorerst aufs Hoffen verlegen: „Es lebe, was auf Erden“ werden die Chöre heute auf der Festveranstaltung schmettern.
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