: Ein jegliches hat seine Zeit
■ Übers Steine sammeln und Steine zerstreuen in einem Bördebauernstädtchen Häuser ohne Gesichter zerstören jahrhundertelang gewachsenes Stadtbild
Aus Kroppenstedt Jürgen Vogel
Ein Wanderer wird nicht nach Kroppenstedt kommen. Zu lang führten ihn die schattenlosen Straßen durch Landschaften, in denen nichts den Blick hält. Kein Feldweg lockt zum Spazieren. Auf den Flurkarten noch eingezeichnet, sind die meisten längst umgepflügt. So gewonnener „Schwarzacker“ ließ LPG und Volkseigenes Gut in den letzten Jahren ihre Pläne erfüllen. Gepflügt wurde bis zu den Straßenrändern.
„Schwerer Boden - harte Herzen“ heißt eine Weisheit der alten Bördebauern. Sie fand Ausdruck auch im Stadtbild von Kroppenstedt. Die Straßen eng und verwinkelt, die Fußwege schmal, kein Platz für Vorgärten. Die noch nicht abgerissenen Scheunen erscheinen riesig, die hohen Mauern und festen Tore verhindern jeden unbefugten Blick.
Gebaut wurde mit Kalkbruchstein. Den macht die Sonne lebendig. Gleich ob zum schwarzen Boden, zu grünen Äckern, zu den goldenen Feldern oder zum weiten Weiß steht er immer im richtigem Kontrast. Das Licht läßt die Wände lebendig scheinen wie Greisengesichter. Jeder Stein ist ein Original. Und die Maurer mauerten ohne Klagen fluchtgenau.
Heute ist Gasbeton begehrt. Das schafft. Eine Garage an einem Wochenende und das Dach aus Wellasbest gleich mit. Bauland im Ort ist leicht zu beschaffen. Das bewies zuerst jene Bürgermeisterin, die einen Teil der Stadtmauer abreißen ließ, um Platz für einen Plattenneubau mit 24 Wohnungen zu schaffen. Damals folgte die Steichung des Ortes von der Liste der Bezirksdenkmale. Mit den wenigen finanziellen Unterstützungen entfielen so auch die vielen Auflagen der Denkmalpflege.
Die meisten Häuser verloren ihre Gesichter. Bruchsteine verbarg man unter Putz; vergrößert und vielfach mit den begehrten Riemchen wie mit Grind umkleidet, erscheinen die neuen Fenster manchem wie Wunden. Inzwischen sind unveränderte Fassaden selten geworden in Kroppenstedt, aber steigt man auf den Kirchturm, zeigen sich noch viele der schwer zugänglichen Giebel in ihrer alten Gestalt.
Der Kalkstein kam aus den Brüchen südlich des Ortes. Dort steigt die Straße an in Richtung Quedlinburg und mit den Fuhrwerken waren die Steine in einer Stunde am Bauplatz. Zurück blieben nach Jahrzehnten verwachsene Löcher als Lebensinseln in den stark belasteten landwirtschaftlichen Nutzflächen.
Inzwischen kehren viele der gebrochenen Steine zu ihrem Ursprung zurück. „Unsere Menschen wollen in warmen, lichtdurchfluteten Häusern wohnen, wo sie auch ihre Möbel stellen können“, hieß der Kommentar des vorletzten Bürgermeisters in einem Eingabegespräch wegen der zahlreichen Abrisse im Ort. Auch er stammte wie die vor und nach ihm nicht aus Kroppenstedt. Die Entfremdung als Element staatlicher Kommunalpolitik gegen die Gefahr eines lokalen Selbstbewußtseins und ihm angemessener Verwaltung. „Der Staat bezahlt seine Diener nicht schlecht“, wußte jener die Politik beim Bier zu würdigen. Inzwischen ist auch sein Nachfolger nicht mehr im Amt und in Kroppenstedt regiert der Runde Tisch.
Die zunächst dem Ort liegenden verwachsenen Brüche wurden als erstes entdeckt für die städtische Entsorgung. Das mag lange zurückliegen und es dauerte, bis sie verfüllt waren. Die eigentliche Erfindung des Mülls folgte später. Nach zweihundert, dreihundert Jahren kehren die damals gebrochenen und behauenen Steine als Abfall zurück. Und mit ihnen Balken und Lehmwände, Dachsteine, Dielen und Hausrat. Abgekippt und planiert finden sie sich in Gesellschaft mit Asche und Hausmüll, Obstbäumen, Tapeten und gerodeten Wurzelstöcken, Autoreifen Strohresten, Gewächshausfolien, Farben, Putzmitteln, Batterien.
Im größten der Brüche liegt seit sechs Jahren auch das „Deutsche Haus“. Mit Saal und Kegelbahn. Dem letzten in Kroppenstedt. Im Frühjahr damals wurde das Dach gedeckt, im Winter folgte der Abriß. Mit Genehmigung des Rates des Kreises. Ohne dessen Kenntnis. Auf Beschluß der Stadtverordnetenversammlung. Gegen die Stimmen der Abgeordneten. Weil der Schwamm drin war. Wegen der Abrißprämien. Weil es Streit gab mit dem Wirt. Heute danach zu fragen, ruft immer noch Wut hervor. Die bittere, nachträgliche Wut jener, die sich damals nicht zuständig fühlten für ihre Angelegenheiten über das Schimpfen hinaus. Jetzt trägt der alte Platz im Volksmund den Namen des damaligen Bürgermeisters. Der alte Besitzer sprach nur noch das Nötigste in den wenigen Jahren bis zu seinem Tod.
Der größte Steinbruch ist bald voll. Wie bei den bereits verfüllten wird noch einmal alles planiert werden, ein halber Meter Mutterboden aufgebracht und im Frühjahr oder Herbst schon folgt dann die erste Saat. Nur hochgepflügte Glasscherben und Folienreste werden den Wanderer an Gewesenes erinnern. Aber ein Wanderer wird nicht nach Kroppenstedt kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen