„Mut zeigen und offen auftreten“

■ Die Risse im Regime haben sich seit Ende des letzten Jahres entwickelt / Die Führung unter Alia muß den Sachzwang akzeptieren, das Land mit allen Konsequenzen zu öffnen

Gott sei Dank reagieren Menschen nicht immer „vernünftig“, nicht immer so, wie es die jeweiligen Regierungen und Mächtigen in vielen Ländern wollen. Bestimmt aber haben die Flüchtlinge in Tirana, die nun schon zu Tausenden ausländische Botschaften stürmen, gegen die Ratio der albanischen Politik verstoßen. Wer sich vor Augen hält, wie die Öffnung der ungarischen Grenze im Sommer 1989 als Hefe im Teig der Revolutionen in Ostmitteleuropa wirkte, wird in den Ereignissen in Albanien den Beginn einer radikalen Veränderung sehen müssen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten befindet sich das Regime in der Defensive. Die Dynamik der Entwicklung hat schon nach nur einigen Tagen zu personellen Konsequenzen in der Führung des Landes geführt. Und da sich seit einigen Monaten der „Kampf zweier Linien“ abgezeichnet hat, werden die Flüchtlinge politische Entscheidungen zur „Lösung des Problems“ erzwingen, an denen abzulesen sein wird, wie die Machtverteilung wirklich ist.

Wie auch in den anderen Ländern Ostmitteleuropas sind es die Reformer, die bessere Karten in diesem Machtkampf haben. Die von Präsident Ramiz Alia vorgegebene Alternative, Albanien müsse sich öffnen oder zu den Verlierern gehören, beschreibt den objektiven Sachzwang, unter den das Regime geraten ist. Wenn auch die Parteikonservativen, die mit dem Rücktritt des Polizeiministers Simon Stefani sowie des Verteidigungministers Prokop Mura Federn lassen mußten, noch alles versuchen werden, um das Rad der Geschichte anzuhalten - die Analyse westlicher Diplomaten, die Schüsse auf die Flüchtlinge seien auch Warnschüsse des Geheimdienstapparats gegen die Öffnungspolitik gewesen, ist sicher zu beachten -, so deutet nur noch wenig auf ihren letztendlichen Erfolg. Denn wie auch in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks haben die Konservativen nichts anzubieten als die Erhaltung des Status quo.

Signifikantes Zeichen für die Verschiebung der Machtverhältnisse war schon im Juni die Rede von Nedschmie Hodscha, der Witwe des Partei- und Staatsgründers Enver Hodscha, die in den letzten Jahren zur „starken Frau“ des Landes aufgestiegen war. Die seit Monaten in der Öffentlichkeit nicht mehr aufgetauchte „Rote Witwe“ - sie soll unter Hausarrest gestanden haben -, die seit dem Tode ihres Mannes den Geheimdienst „Sigurimi“ beherrscht, mußte nämlich in ihrer Eigenschaft als Präsidentin der „Demokratischen Front“ eine Lobrede auf den Demokratisierungsprozeß und die Öffnung Albaniens halten.

Es sind scheinbar kleine Zeichen, die einer vorsichtigen Öffnung in der Wirtschaft und in den Außenbeziehungen vorauseilten. So gaben die Autoritäten der „Arbeiterklasse“ den Rat, die früher mit allen Insignien der stalinistischen Macht ausgezeichneten 1.-Mai-Feierlichkeiten in kleinem Rahmen zu verbringen. Wenn sich dahinter auch die Angst verborgen haben mag, die aufmarschierenden Massen könnten wie beim Sturz Ceausescus in Rumänien die Gelegenheit ergreifen, zum politischen Subjekt zu werden, schnürte der eine Woche später tagende Volkskongreß ein Bündel von Reformgesetzen, das selbst das Anrecht auf Ausreise, auf die Ausstellung von Reisepässen beinhaltete. Eine Maßnahme, die, sei sie von der Bürokratie verschleppt oder nur wegen des Besuchs des UN-Generalsekretärs Perez de Cuellar ausgesprochen, Hoffnungen in der Bevölkerung erweckte. Deutlicher noch als in dem Wunsche, der KSZE-Konferenz beizutreten - und damit die Einhaltung der Menschenrechte anzuerkennen -, zeigte sich bei den Ankündigungen zur ökonomischen Reform der Wille der Führung, wenn auch vorsichtig, die Weichen grundsätzlich neu zu stellen.

Seither verfügen die Betriebe erstmals über einen gewissen finanziellen Spielraum. Der Professor für Wasserbauwirtschaft und hohe Funktionär, Farudin Hodscha, erklärte damals, die Zukunft Albaniens müsse angesichts der riesigen Bodenschätze, den optimalen Bedingungen für die landwirtschaftliche Produktion und den Möglichkeiten für die Entwicklung des Tourismus in der Kooperation mit anderen Ländern und in der Einführung neuer Technologien liegen. Zum ersten Mal deutete der Multifunktionär Möglichkeiten für Kreditaufnahme im Ausland und für ausländische Investitionen an, die gemäß der Verfassung verboten sind. Mit dem kürzlich begonnenen Bau einer Autobahn von der jugoslawischen zur griechischen Grenze wird mit den dafür notwenigen Infrastrukturverbesserungen ernst gemacht.

Daß die Reformfraktion vor dem Sturm auf die Botschaften an Einfluß gewann, zeigte sich auch in den albanischen Zeitungen. In Beiträgen für die Zeitung des Schriftstellerverbandes 'Drita‘ und sogar für die Parteizeitung 'Zeri i Populit‘ traten der Soziologe Hamit Beqeja und der auch im Ausland bekannte Krebsspezialist Sali Berisha für „Glasnost“ ein. Berisha attackierte dabei die Bürokratie, indem er die „lächerlichen“ Prozeduren in den Bibliotheken aufzeigte, in denen Bücher wie „Staatsgeheimnisse“ behandelt würden. Offensichtlich hat jetzt der Prozeß begonnen, den der Schriftsteller Ismail Kadare von der Intelligenzija des Landes schon länger verlangt: Mehr Mut zu zeigen und offen aufzutreten.

Erich Rathfelder