: Elisabethanische Irritationen
■ Lore Stefanek inszeniert „Miss Sara Sampson“ in Darmstadt
Die junge Sara Sampson wird von ihrem Ver- und Entführer Mellefont häufig nur „Miss“ genannt und steht in Inszenierungen von Lessings erstem bürgerlichen Trauerspiel zumeist sächsisch-unantastbar auf der Bühne. Im Hintergrund wütet heimtückisch die Ex-Geliebte Mellefonts und will ihn zurückgewinnen.
Warum die Marwood so hinter ihm her ist, fragt man sich erneut, wenn er in Darmstadt als windiges Bürschchen mit geziertem Gehabe auf der Bühne erscheint. Die entscheidenden Akzente hat Lore Stefanek aber ihrer Sara Sampson gegeben. Das englische Fräulein ist nicht, wie so oft, ein Opfer der Geschehnisse, sondern eine willensstarke junge Frau: Ab und zu fallen ihr düstere Schatten ins Gesicht, unter die Willensstärke mischt sich Eigensinn. Es könnte durchaus sein, daß sie Mellefonts Meisterin ist und der eitle Geck ein Mädchen entführte, dem es unter Vaters Fittichen eher zu dumpf wurde, als daß sie Mellefonts Charme erlag.
Und die Marwood? Wenn sie in der Absteige der beiden auftaucht, entspinnt sich auf dem Sofa ein groteskes Pas de trois. Mellefont sitzt hilflos zwischen den Frauen, und auch mit Marwood mag man etwas Mitleid haben. Denn Sara ist alles andere als unterlegen, und daß alles Lüge ist - auch davon hat sie eine Ahnung. Immer wieder passiert es ihr, daß sie bösartig lacht und Irritationen in die Inszenierung bringt, die etwas Elisabethanisches an sich haben. Ein Kunstgriff, mit dem Lore Stefanek das Stück aufbricht, das so wenig von Zweifel angekränkelt ist und Figuren präsentiert, die zu hölzernen Puppen werden können, folgt man blind Lessings Aufklärungsoptimismus. Er wollte in guter aristotelischer Tradition, daß der Zuschauer das Theater durch Mitleid geläutert verlasse. Wenn in seinen Stücken der Gifttrank gemischt wird, geschieht das lediglich des Kontrastes wegen
-damit das Gute und Moralische deutlicher zu sehen sei. Gegenüber Shakespeares unübersehbaren Welten jenseits jeder Moral wirkt das reichlich blauäugig, die Darmstädter Eintrübungen sind daher äußerst wohltuend. Lessing will, daß bei „Miss Sara Sampson“ häufig geweint wird. Immer wenn es soweit ist, wird es schrill auf Lore Stefaneks Bühne. Sie scheut sich nicht, hinter den Schleier der Tränen zu blicken und die Abgründe der Figuren auszuleuchten, ohne sie zu verraten. So wird aus dem schutzlosen Kind von Marwood und Mellefont ein kleines Monster, weder hübsch noch anmutig, wie Lessing das mit dem Namen Arabella suggerieren wollte.
Am Ende stirbt Sara am Gift Marwoods, die geflohen ist. Die sterbende Sara will nun, daß ihr Vater die kleine Arabella an Kindes Statt aufnehmen soll, obwohl der leibliche Vater Mellefont noch lebt. Was vom Autor als höchst moralischer Akt geplant ist, wird in Darmstadt zur Verschleppung. Der von Lessing mit Heiligenschein drapierte Vater Saras packt die kreischende Arabella, und das Stück endet, wie es begann - mit einer Entführung. Das Darmstädter Premierenpublikum konnte dieser irritierenden Sicht auf den Klassiker nicht folgen. Ungetrübtes Mitleid hätte wohl besser gefallen - wie falsch ist aber, was gefällt.
Jürgen Berger
Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. Staatstheater Darmstadt. Regie: Lore Stefanek. Bühne: Martin Kukulies.
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