: „Der Katastrophe freundlich beiwohnen“
■ Carlos Maggi hat als erster Autor Lateinamerikas mit einem Werk auf die veränderte Situation in Europa reagiert. Mit dem Dramatiker sprach in Montevideo Bärbel Martens
Frage: Sie haben mit Ihrem Theaterstück „Die Tochter Gorbatschows“ auf die neue Situation Europas reagiert: den Fall der Berliner Mauer, die Öffnung des Ostens...
Antwort: Aus politischer und wirtschaftlicher Sicht ist die neue Situation Europas negativ für Lateinamerika: Unserem Kontinent fehlt Kapital, um unsere Eigenmittel zu aktivieren, das heißt um unsere Bodenschätze, Agrarmittel usw. auszubeuten. Niemand investiert in Lateinamerika. Die Tatsache, daß europäische und nordamerikanische Investitionen nun auf Osteuropa konzentriert werden, ist sehr nachteilig für uns. Aber trotzdem ist die Realität komplexer, vielschichtiger als die kleinen mechanischen Vorgänge: Sicher wird das Kapital sich auf Osteuropa konzentrieren und nicht auf Lateinamerika, das dieses so sehr benötigt. Ebenso ist klar, daß Osteuropa sich in eine immense Konsumgesellschaft verwandeln wird: Ich nehme an, daß wir, so wie andere Länder, bei diesen gierigen Massen, die gerade ihre Freiheit wiedererlangt haben und sich einem hemmungslosen Konsum hingeben werden, neue Märkte für unsere Produkte finden werden. Dadurch wird die Situation gut sein für alle. Ein Teil der Erde befreit sich und wird besser leben ... Im Endeffekt bedeutet das eine Verbesserung für alle.
Ist das Stück „Die Tochter Gorbatschows“ Ihre persönliche Feier des Zerfalls des Kommunismus?
Ich lade mit dem Werk zum Lächeln ein: Lächeln soll die Antwort auf die Katastrophe der Dogmatiker sein: Die Fanatiker haben eine Niederlage erlebt. Die harten Männer und die mit den Scheuklappen ebenso. Es geht hier nicht um Rache ... man soll lächeln. Das ist die Philosophie des Stückes.
Was für ein Theater schaffen Sie, in welcher Linie befinden Sie sich?
Montevideo war immer schon ein guter Ort für Theater, ein Laboratorium: In formeller Hinsicht hat es gerade bei uns eine große Entwicklung gegeben. Die Avantgarde, wie zum Beispiel die Pariser Schule oder andere, haben wir in gewisser Hinsicht zur Seite gelegt. Aufgrund der langjährigen Entwicklung des Theaters in Uruguay können wir von einem eigenen Theater sprechen: Das Publikum hat gelernt, neue Ausdrucksformen zu verstehen, die nicht naturalistischer Art sind. Natürlich hat unser Theater eigene Formen - die Geschichte wiederholt sich nicht -, aber es besteht eine Nähe zum deutschen Expressionismus: Wir sind hier sehr vertraut mit den Malern, dem Theater und der Literatur Deutschlands, mit seinen Verzerrungen der Realität, mit dem Bruch des naturalistischen Realismus. Eine Kunstrichtung, die in Uruguay wiederholt wird: Meine Werke sind alle in dieser Linie geschrieben.
Was sind die Nöte, die Bedürfnisse, die Mängel des Theaters in Lateinamerika?
Ich würde sagen, daß das lateinamerikanische Theater weniger Mängel hat als das europäische. Diese Antwort mag sehr anmaßend und eigenartig klingen, aber es ist eine Tatsache! Das Theater in Lateinamerika rechnet mit viel weniger materiellen Mitteln. Aber dieser Mangel ist unwichtig im Vergleich zu der Wichtigkeit seiner gesellschaftlichen Funktion. Theater nimmt in Südamerika eine wichtige politische und gesellschaftliche Rolle ein: Theater ist ein lebendiges Werkzeug in unserem Kontinent, das Einfluß nimmt auf das, was hier vorgeht. Schauspieler und Theaterdirektoren werden in Ländern Lateinamerikas mit dem Tode bedroht. Bei uns geht man nicht ins Theater, um Corneille, Racine zu sehen, man geht nicht in die Oper... In Lateinamerika geht man ins Theater, um teilzuhaben an dem, was wichtig ist im Lande, an den Geschehnissen. Das ist der große Unterschied zu Europa, und das vermisse ich am europäischen Theater und in den USA. Ihnen fehlt die aktive Teilnahme und der direkte Einfluß auf die Welt, die sie umgibt.
Auf welche Art wollen Sie Ihr Publikum mit dem Stück „Die Tochter Gorbatschows“ beeinflussen?
Wir befinden uns in einem sehr lebendigen und schnellen Prozeß einer Destruktion und Rekonstruktion der Linken. Die Linken haben den Boden unter den Füßen verloren und sie müssen sich rekonstruieren, ihr Image muß wiederhergestellt werden, sie müssen von neuem überzeugen. Die Wahrheiten der Linken haben sich in großem Maße als falsch erwiesen, das haben die Umstände in Osteuropa und der Sowjetunion gezeigt. In dem Moment, wo der progressivste und umbruchfreudigste Teil unserer Gesellschaft auf der Strecke geblieben und zerstört worden ist, müssen wir an dieser Debatte teilnehmen.
Wo stehen Sie politisch?
Shakespeare sagte, er habe keine Seele: Ich glaube, ein Theaterautor darf keine vorbestimmte politische Position einehmen. Man schreibt kein Theater, um politische Positionen darzustellen, und nicht einmal, um politische Positionen zu unterstützen. Ein Kunsterlebnis ist eine vitale Erfahrung, die Spuren im Zuschauer hinterläßt. Deswegen schreibe ich, damit derjenige, der Theater schaut, anders herauskommt, als er hineinging.
Wie verändern Sie die Menschen mit Ihrem Stück?
Sie können im Theater lachend und vergnüglich den Zerfall von Dogmen erleben, ihnen wird der Fanatismus und die Transzendenz genommen: Es geht darum, den Geist bereitzuhalten, dieser Katastrophe keinen transzendentalen Wert beizumessen, sondern dem freundlich und mit Sympathie beizuwohnen: Einfach zu erkennen, daß nichts Schlimmes passiert ist, sondern daß man sich viele Jahre lang eben geirrt hat... ungefähr 75 Jahre lang. In dem Stück sage ich: „Seit siebzig Jahren wollen wir nun 'Twenties‘ sein, wir Russen, wollen unsere Ausschnitte an den Kleidern senken und die Rocksäume heben, wir wollen Champagner trinken und Charleston tanzen... Wann werden wir endlich an der Reihe sein?“ Ist das nicht schrecklich?! Aber wenn die Menschen das einmal verstehen, dann verändert das ihre Realität, verändert es ihre Art, zu sein und Dinge zu sehen.
Wann wird Ihr Werk uraufgeführt?
Die Tochter Gorbatschows wird in Montevideo noch in diesem Jahr uraufgeführt. Die Machart des Stücks ist simpel: Zwei Schauspieler - es können Männer oder Frauen sein -, dazu kommen drei Musiker. Deswegen nenne ich das Stück „Ein musikalisches Schauspiel kleinen Ausmaßes“.
Soll Ihr Werk in andere Sprachen übersetzt und im Ausland aufgeführt werden, zum Beispiel in Deutschland?
Ich denke ja! Das Stück ist nicht ortsgebunden, das Thema ist universell. Und ich glaube, daß wir aus unserer Distanz heraus das Problem ausgewogen und unparteiisch sehen können.
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