Zeugnistag: Kein Schreckenstag?

West-Berlin. Die heutige Elternschaft setzt sich keineswegs nur aus antiautoritären KritikerInnen der Leistungsgesellschaft und verständnisvollen Selbstsitzenbleibern zusammen. Auch wenn dies die gestrige Bilanz der Sorgentelefone des Westberliner Schulpsychologischen Dienstes zunächst vermuten ließ. Denn die SeelentelefonistInnen, die - wie auch schon am Montag und Dienstag - in allen Bezirken von 10 bis 17 Uhr zur Verfügung standen, registrierten kaum Anrufe. „Kein einziger“ im Wedding noch in Kreuzberg, Steglitz, Wilmersdorf und Reinickendorf. Tempelhof verzeichnete zwei Anrufe, Tiergarten einen.

Dies sei schon seit Jahren der Trend, war allerorten zu hören, auch die Ausdehnung des Telefondienstes auf drei Tage habe in diesem Jahr keine Veränderung gebracht. Warum das? „Der Zeugnistag ist heute kein Schreckenstag mehr“, meint ein Telefonseelsorger aus Kreuzberg. Heute müßten die Kids nicht mehr auf ihre Ergebnisse lauern, weil „die Schule vorplant“. So sei in der Grundschule durch Ausführungsvorschriften festgelegt, daß eine Klassenkonferenz zum erstenmal schon acht Wochen vor der Zeugnisvergabe entscheidet, ob versetzt werden soll oder nicht - dann würden die Eltern benachrichtigt. Später gebe es noch eine zweite Konferenz, die die Entscheidung überprüfe. An Haupt-, Real- und Oberschulen sei das ähnlich. Der Tiergartener Kollege bestätigt: „Es gibt im Vorfeld schon viele Gespräche.“ So habe der Schulpsychologische Dienst vor der Zeugnisvergabe durchaus mehr zu tun: „Wir hatten etwa zehn bis fünfzehn Termine.“ Ganz erledigt ist der Zeugnishorror also keineswegs.

„Am Vergabetag hat das keine großen Dimensionen mehr, dann hat sich das meiste schon abgespielt“, meint auch Stefan Woll, Sprecher von Schulsenatorin Sybille Volkholz. Gewalt, Strafe und Sanktionen also nur vorverlegt? Woll ist etwas optimistischer. Er vermutet, daß sich auch das Erziehungsbewußtsein von Mam und Paps liberalisiert habe wie die Schulpädagogik. Daß der Schulpsychologische Dienst weit weniger als in den 60er Jahren in Anspruch genommen werde, liege aber auch daran, daß „sich das persönliche Gefühl von Betroffenheit verlagert hat“. Bei der angespannten Lage im Lern- und Lehrwesen mit zu kleinen Klassenräumen, zuwenig Lehrern und dauernden Unterrichtsausfällen machten die Eltern nicht mehr nur ihre Kids für ein Leistungstief verantwortlich.

kotte