: Obstbauern im Norden kalt erwischt
■ An der Niederelbe droht eine „bislang einmalige Erntekatastrophe“ / Massiver Kälteeinbruch Anfang April überfiel Pflanzen, die bereits in Vollblüte standen / Keine einzige Sauerkirsche hat überlebt
Aus Hamburg Olaf Stampf
Die klirrende Kälte kam Anfang April. In einer Nacht lag das Temperatur-Minimum am Boden bei Minus 11 Grad Celsius, auf der Höhe von Obst-Blüten immerhin noch bei Minus 4,4 Grad brisant genug: Kirschen, Birnen und Pflaumen standen bereits in der „Vollblüte“, die Äpfel kurz davor; in diesem Vegetationsstadium sind Temperaturen unter Null fast immer absolut tödlich.
Die Folge: Den Obstbauern an der Niederelbe steht eine bislang einmalige Erntekatastrophe bevor - das jedenfalls zeigen Stichproben, die von der niedersächsischen Obstbauversuchsanstalt in Jork erhoben wurden. „Einen derartigen Einbruch“ hat Karl-Heinz Tiemann, Leiter der Versuchsanstalt, in seiner „zwanzigjährigen Amtszeit noch nicht erlebt„; denn der massive Frost kollidierte mit einer um bis zu fünf Wochen verfrühten Vegetation. Bei Pflaumen und Zwetschgen, so Tiemann, „geht der Behang gegen Null„; Sauerkirschen wird es in diesem Jahr überhaupt keine geben, und im Fall der Birnen geht der Biologe Tiemann von einem „Ernteausfall von 90 Prozent“ aus.
Noch einmal mit dem Schrecken davon gekommen sind nur diejenigen Bauern, die über eine sogenannte Frostschutz -Beregnungsanlage verfügen. Die Wunderwaffe selbst basiert nicht auf dem Prinzip einer vermeintlichen Kälte-Isolierung durch dicke Eisschicht über den Knospen, zu welcher der künstliche Regen automatisch gefriert. Ein physikalischer Trick steckt in Wahrheit dahinter: Wenn ein flüssiger Stoff sich in Eis verwandelt, werden die Moleküle quasi dichter gepackt - dabei entsteht „Erstarrungswärme“. Da die Wirkung aber rasch verpufft, muß die Dieselpumpe mitunter die ganze Nacht aus den umliegenden Gräben Wasser absaugen und unter Verwendung von „Standregnern“ über die Plantage verteilen bis zu 300 Kubikmeter pro Hektar.
Hauptsächlich die Äpfel profitieren vom Beregnungsschutz: Während ohne Beregnung ein Ernteausfall von 70 Prozent verzeichnet wird, rechnen die beregneten Betriebe lediglich mit einem Ausfall bis zu zwanzig Prozent - abhängig von der Leistung der jeweiligen Maschine.
In der Summe prognostizieren die Fachleute ein Ergebnis deutlich unter der Hälfte einer Durchschnittsernte. Im Obstanbaugebiet Niederelbe, dem „größten geschlossenen in der Bundesrepublik“, wären dies weniger als 100.000 Tonnen. Im Rekordjahr 1989 erreichte die Ernte dagegen einen Wert von 240.000 Tonnen.
Kalt erwischt hat es, im Sinne des Wortes, auch die drittwichtigste Obstanbauregion - das Rheinland. Nur „dreißig bis vierzig Prozent einer Durchschnittsernte“, erwartet Dr. Gustav Engel vom Obstbauversuchsbetrieb der Universität Bonn. Er rechnet mit Umsatzeinbußen in Höhe von 25 Millionen Mark - „ein schwerer Schlag“. Von den teuren Apfelsorten Jonagold und Elster seien bis zu siebzig Prozent erfroren, klagt Engel, „Boskop sogar fast vollständig“. Und bei Birnen und Kirschen sehe es ähnlich dramatisch wie an der Niederelbe aus. Zwar habe der Frost nicht so heftig zugeschlagen wie im Norden, dafür gebe es im Rheinland so gut wie keine Beregnungsanlagen - es fehle schlicht an geeigneten Fleeten (Kanäle, d.Korr.) für die nötigen Mengen an Wasser.
Damit hat man an der Niederelbe wiederum keine Probleme. Eine Vielzahl von Gräben und Kanälen durchziehen das sogenannte „Alte Land“, das Zentrum des Anbaugebietes - es reicht von Hamburgs Süden bis zum dreißig Kilometer westlich gelegenen Stade. Das ausgeklügelte Entwässerungssystem stammt von holländischen Strafgefangenen, die auf diese Weise das „Alte Land“ im 11. / 12. Jahrhundert trocken legten und urbanisierten.
Dennoch verfügt lediglich ein Fünftel der niederelbischen Gesamtfläche von 11.500 Hektar über Anti-Frost-Beregnung. Diese liegen zumeist auf Hamburger Gebiet - ein Ergebnis besonderer hanseatischer Förderprogramme zwischen 1977 und 1980. Tiemann fordert deshalb von der neuen niedersächsischen Landesregierung eine „Unterstützung kleiner bäuerlicher Familienbetriebe“. Ein Landwirt, dessen Betrieb sich „auf der Kippe“ befinde, sei kaum in der Lage, „über 15.000 Mark für eine Beregnungsanlage hinzublättern“.
Frohlocken kann indes die Obstregion Bodensee, nach dem Niederelbe-Gebiet die Nummer zwei in der Bundesrepublik: „Blüte insgesamt gut“, konstatieren die Obstbauern in Baden -Württemberg. Die Ertragserwartung bei den Äpfeln liege lediglich „leicht unter dem Vorjahresniveau“, vor allem verzeichne man „so gut wie keine Blütenfrost-Schäden“. Ursache der ganzen Malaise: „Zum dritten Mal hintereinander“, so Dr. Rudolf Beinhauer vom Deutschen Wetterdienst in Hamburg, sei der vorangegangene Winter ungewöhnlich mild gewesen. Das wetterbestimmende Hochdruckgebiet hatte sich nämlich nach Frankreich verlagert und dirigierte monatelang laue Winde bis weit nach Osten statt, wie üblich, über Rußland zu hocken, um Mitteleuropa mit trocken-kalter Festlandsluft zu versorgen.
Dann, in der zweiten Aprilwoche, gab das Hoch an einer Stelle plötzlich nach, so daß ein Schwall polarer Kaltluftmassen nach Deutschland herüberschwappte. Der Kaltluftvorstoß kam erst auf der Höhe von Koblenz zum stoppen - die Landwirte in den bundesdeutschen Südstaaten atmeten auf. Ein solcher kurzzeitiger Frosteinbruch „ist für diese Jahreszeit völlig normal,“ betont Agrarmeteorologe Beinhauer, „überraschend war allenfalls die Dauer“. Erst in Kombination mit der extrem verfrühten Vegetation führte die Kälte zum Obst-GAU - ein Zusammentreffen, das die Wetterforscher laut Beinhauer „zum ersten Mal seit Beginn unserer Aufzeichnungen“ beobachten.
„Wäre die Blüte normal gekommen“, wie nach einem gewöhnlichen Winter, „wäre nicht viel passiert“ meint der Herr vom Wetterdienst. Eine gleichbleibende Tendenz für die kommenden Jahre, so der schwache Trost, lasse sich noch nicht ableiten.
Die Betroffenen dürfen sich nur wenig Hoffnung machen, die herben Einbußen durch höhere Preise wieder wettmachen zu können - dazu ist ihr Obstanteil am Gesamtvolumen in der Europäischen Gemeinschaft zu gering. Und in den übrigen EG -Ländern erwarten die Experten eine durchweg normale Ernte. Dr. Alfred Großgebauer vom Deutschen Bauernverband in Bonn glaubt jedenfalls nicht, daß „beim Preis viel passiert“. Großgebauer: „Sieben Millionen Tonnen Obst in der gesamten EG - das sind 1990 immer noch mehr als wir überhaupt brauchen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen