: Bremer Albaner bleiben spurlos verschwunden
■ Rätselraten: 41 Bremer Albaner wurden entweder abgehängt oder existieren gar nicht
Am heiligen Sonntag war Erhard Heinze schon vor dem Morgengrauen aufgestanden. Es lagen dienstliche Gründe vor: In seiner Eigenschaft als Referent der Sozialbehörde für „Angelegenheiten von Ausländern, ethnischen minderheiten, Zuwanderern und Aussiedlern“ lag Heinzes Arbeitsplatz am vergangenen Sonntagmorgen an Gleis 9 des Bremer Hauptbahnhofs: Heinze war Mitglied des inoffiziellen Begrüßungskomitees, das 41 albanische Flüchtlinge nach Jahrzehnten kommunistischer Diktatur, wochenlangem Hoffen und Bangen in der deutschen Botschaft in Tirana und den Strapazen der mehrtägigen Reise endlich in der Freiheit der Freien Hansestadt Bremen begrüßen sollten.
Kurz vor vier Uhr war den Bremern via Bundesinnenministerium die Ankunft des Flüchtlingszugs am Bremer Hauptbahnhof avisiert worden. Um vier Uhr kam kein Zug. Heinze machte unverrichteter Amtsdinge kehrt. Neue Order: Fünf Uhr. Um fünf Uhr kam ein Zug. In den Abteilen der drei Waggons dösten Albaner
der Freiheit entgegen. In Bremen aussteigen wollte keiner. Zugbegleiter des Deutschen Roten Kreuzes erklärten Erhard Heinze, warum er schon wieder vergeblich gekommen sei: Im Zug sitzen nur noch Flüchtlinge mit „Bestimmungsort“ Hamburg und Neumünster.
Für Erhard Heinze stellte sich abrupt die Frage: Wo sind die 41 Bremer Albaner, die Bremen laut gültiger Flüchtlings -Quotenregelung der Bundesländer (jeder 1,3 Asylbewerber für Bremen aufnehmen muß.
Erhard Heinzes Frage blieb nicht nur am Sonntag unbeantwortet, sondern auch gestern: Keine Spur von den Bremer Albanern. Dafür kursieren seit gestern mehrere, allerdings widersprüchliche Theorien über das rätselhafte Albanerverschwinden.
Theorie 1: Die Bremer Albaner gibt es gar nicht. Die Annahme ihrer Existenz beruht lediglich auf einem Zähl- und Rechenfehler. So seien Säuglinge auf den Armen ihrer Mütter bei einer Zwischenstation in Brindisi noch erfaßt
worden, bei der folgenden Ankunft und Verteilung auf die Bundesländer aber dann nicht mehr mitgezählt worden. Statistische Verwerfungen, so mutmaßt das Bundesinnenministerium, haben sich während der Flucht auch durch Zugänge von „Neugeborenen“ und „Abgänge“ Erkrankter ergeben. Allein in Brindisi hätten sich 30 Flüchtlinge in stationäre Krankenhausbehandlung begeben müssen, die in Bremen jetzt „fehlen“.
Theorie 2: Die Bremer Albaner haben zeitweilig existiert, beka
men auch einen eigenen Kurswagen der Deutschen Bundesbahn zugewiesen, der aber auf der Reise irgendwo verlorenging. Nach ungesicherten Informationen sollen im nordrheinwestfälischen Ort Ehringerfeld statt 12 versehentlich 13 Waggons abgekoppelt worden sein. Hoffnung der Bremer Behörden: Vielleicht saßen darin die Bremer.
Trost für Erhard Heinze und die Bremen-Norder Leiterin des Arbeitersamariterbundes, der die Betreuung der erwarteten Flüchtlinge übernommen hat, Almut
Stoess: „Wir gehen jedenfalls davon aus, daß alle, die in der Bundesrepublik eingetroffen sind, inzwischen irgendwo ein Bett gefunden haben und sich erst mal ausschlafen und erholen können.“ Bundesländer, die versehentlich mehr Albaner aufgenommen haben, als die Aufteilungsquote vorsieht, würden sich in den nächsten Tagen schon melden. Dann wird erneut „umverteilt“, und Erhard Heinze hat noch einen dienstlichen Termin auf dem Bremer Hauptbahnhof.
K.S.
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