: Bad Neighborhood ist nicht erwünscht
■ „Winter Soldier“ - ein Dokumentarfilm über Vietnamkriegsveteranen
Die „Veterans Administry“ in Los Angeles besteht aus einer riesigen, gedrittelten Rasenfläche mit nüchternen Zweckbauten. Autobahnen unterteilen das Gelände in einen medizinischen und einen psychiatrischen Trakt - dort werden die lebenden Veteranen versorgt, gegenüber erstreckt sich der Friedhof. Was das Gelände äußerlich von einem Park unterscheidet, ist die gänzliche Abwesenheit von Joggern. Aber kein Schild, kein Zaun verbietet den Zutritt, es ist die tabuisierte Nähe zu jenen Männern, die ab und zu als Amokläufer auf ihr Schicksal aufmerksam machen. Auch wenn die Vietnam-Veteranen seit Platoon als tragische Protagonisten in Hollywood Karriere gemacht haben - im nichtfilmischen Nordamerika spielen die mittlerweile 40- bis 45jährigen Tätowierten in ihren verschlissenen Uniformen immer noch die Rolle des frei umherlaufenden schlechten Gewissens.
Winter Soldier ist ein neunzigminütiger Dokumentarfilm über eine Anhörung, die 1971 in Detroit stattgefunden hat. Mehr als zweihundert Ex-GIs folgten einer Einladung der Organisation „Veterans Against the War“ und berichteten öffentlich, welche Verbrechen und Greueltaten sie in Vietnam begangen oder mitangesehen hatten. In einer völlig unspektakulären Stadthalle mit Mikrophonen und Mineralwasser auf langen Tischen zeichnet der Schwarzweißfilm Geständnisse auf: wie Kinder aus Spaß gesteinigt wurden, wie vergewaltigten Frauen die Leiber aufgeschlitzt wurden und Kriegsgefangene aus fliegenden Helikoptern gestoßen wurden. „It was like a hunting trip.“ Manche weinen. Einer sagt, er könne zwar nicht erzählen, was er getan habe, „but we have to do something“. Der Mut derer, die etwas sagen, die jene nicht abbildbaren Details des Horrors mit Worten beschreiben, wird mit Applaus belohnt. Es ist eine solidarische Geste von unglaublich verzweifelten Menschen, von Wracks, nur rein biologisch gesehen zwanzigjährig, mit Haaren, deren Länge noch eine politische Aussage hatte. Zwischen den einzelnen Geständnissen, die ohne unangemessene Ordnung oder Chronologie montiert wurden, sieht man kurze Ausschnitte aus Fernsehnachrichten und farbige Amateurfotos, die die Soldaten nach Detroit mitgebracht hatten. Auch wenn sie die bekannten Motive, die psychedelischen Agent-Orange -Farben und exotischen Dschungelkulissen zeigen: nichts bleibt in diesem Film vom Mythos des prickelnden Abenteuers Nam, wo die Witze witziger, die Freundschaften unzertrennlicher und die Sinne sinnlicher gewesen sein sollen. Einer versucht ein eingeblendetes Erinnerungsfoto von einem ganz normalen Tag in Vietnam zu erklären: „Das bin ich. Ich halte eine Leiche in den Armen und lächle.„ Seine Worte hören sich an, als würde er nicht begreifen, wie es möglich sein kann, ein Foto aus einem Alptraum in den Händen zu halten.
Beim Treffen in Detroit wurde wie in den Nürnberger Prozessen Kollektivschuld verhandelt. Der Vergleich ermöglicht den Blick auf bemerkenswerte Kontraste: Die zweihundert Vietnam-Veteranen waren freiwillig auf dem Podium und bekannten, ohne von Richtern gefragt zu werden, vor allen, die es hören wollten, ihre Schuld. Und das, während der Krieg noch voll im Gange war. Was ihre Bekenntnisse fast unerträglich ehrlich macht, ist das unausgesprochene Wissen, daß diese Verbrechen nicht wirklich vergeben werden können. Die Erinnerung daran läßt sich für die meisten nur mit Tabletten oder Alkohol ertragen. Als Reaktion auf Winter Soldier bildeten sich in vielen amerikanischen Städten Selbsthilfegruppen und Therapiezentren. Nicht zuletzt deswegen, weil sich die Psychiater in den staatlichen Beratungsstellen oft mehr für irgendwelche schrecklichen Kindheitserlebnisse der Heimkehrer als für deren Geschichten aus Vietnam interessierten.
Die 'New York Times‘ bemängelte in einer Kritik aus dem Jahr 1972, daß dieser Film keine Antworten parat habe auf die zentrale Frage, die sich bei der Anhörung gestellt habe: wie es in den USA möglich gewesen sei, eine ganze Generation von Leuten zu erziehen, die solche Verbrechen begehe, „ohne jene Form von Mitleid zu verspüren, die das Gewissen aktiviert“. Diese Fragestellung ist nicht ganz unberechtigt. Aber sie ermöglichte es der Mehrheit der Nation auch, die große Schuld so zu zerteilen und zu individualisieren, daß es dem einzelnen GI überlassen blieb, wie und ob er mit den Verbrechen weiterleben konnte. Dabei hätten auch schon bei der Anhörung in Detroit die Verwandtschaft der Metaphern, die ähnlichen Vokabeln und stereotypen Vergleiche, die die Vietnam-Veteranen gebrauchten, als deutliche Hinweise auf ein besonders ekliges Experiment der Miliärs verstanden werden können. Im Zweiten Weltkrieg, so hatten amerikanische Psychologen herausgefunden, wurden extrem viele Soldaten durch Schocks kampfunfähig. Man entdeckte einen Zusammenhang zu dem Durchschnittsalter der Wehrpflichtigen, das damals noch bei 26 Jahren lag. Deswegen schickte man nach Vietnam die 17-, 18- und 19-Jährigen und hatte, militärisch gesehen, Erfolg. Die Teenager „in country“ fielen wegen Schocks fast nie aus. Statt dessen beschreiben ganz viele, wie sie sich von einer schützenden Schale („shell“, „crust“) umgeben fühlten und die ganze Situation als fiktiv und irreal erlebten. Das Militär hat diese altersbedingt verzögerte Reaktion auf das, was im Krieg Alltag ist, in Vietnam strategisch voll ausgenutzt: Die Zusammenbrüche folgten erst zu Hause, oft Jahre später. Das Phänomen heißt „post traumatic stress disorder“ und gehört mitlerweile, abgekürzt als PTSD, zum Wortschatz jedes Vietnam-Veteranen. Der einzige Unterschied zu Tollwut: Man braucht in der Nähe von Veteranen mit PTSD keine Schilder aufzustellen. Die amerikanischen Jogger wissen um die Gefahren und meiden das Gelände als bad neighborhood.
Dorothee Wenner
Winter Soldier, 1972, OmU; Fr., 20.7. und Sa., 21.7. jeweils um 19 Uhr 30 im Haus der Kulturen der Welt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen