Frischzellenkur für die SPD

■ Die Volkskammerabgeordnete des Bündnis 90, Marianne Birthler, über die Diskussion, auf Listenplätzen der SPD zu kandidieren

INTERVIEW

taz: Einige von Euch, profilierte PolitikerInnen aus den Bürgerbewegungen der DDR, interessieren sich für SPD -Listenplätze bei den gesamtdeutschen Wahlen. Was macht denn für Euch die Attraktivität des SPD-Angebots aus?

Marianne Birthler: Ich weiß nicht, ob das Wort Attraktivität schon angebracht ist. Es ist für die Einzelnen noch keineswegs entschieden, ob sie letztlich auf dieses Angebot eingehen werden. In den Bürgerbewegungen gibt es im übrigen ein sehr breites politisches Spektrum, und deshalb werden die individuellen Entscheidungen zu diesem Angebot auch unterschiedlich ausfallen. Viele fühlen sich weder als Grüne noch als Sozialdemokraten. Die werden dann zu der Partei tendieren, die ihnen näher steht. Ich glaube, sehr viel wird davon abhängen, von welcher Fragestellung aus man die Entscheidung trifft: Wollen wir unsere Politik in dieses künftige Parlament mit möglichst vielen Abgeordneten einbringen, oder geht es in erster Linie darum, die Bürgerbewegungen in einem künftigen Deutschland zu stärken.

Würde eine gesamtdeutsche grüne Fraktion nicht am ehesten die Chance bieten, Eure Politik wirksam im Parlament einzubringen?

Ich persönlich glaube, wir brauchen mittelfristig eine stärkere politische Strömung, in der radikaldemokratische Ansätze zum Tragen kommen. Da fehlt bislang die überzeugende politische Kraft. Auch die Grünen in ihrer Gesamtheit sind derzeit nicht in der Lage, eine solche Politik zu entwickeln. Die staatliche Vereinigung vollzieht sich zu einem Zeitpunkt, in dem auch die Grünen in der Bundesrepublik in einer tiefen Krise stecken. Eine Ausdifferenzierung innerhalb der Grünen steht an, und dabei ist noch unklar, ob sich der Flügel, der den Bürgerbewegungen in der DDR sehr nahe steht, durchsetzen wird. Das macht es für uns sehr schwer zu sagen: die grüne Politik ist unsere Politik.

Spielen auch die schwierigen Bündnisverhandlungen zwischen DDR-Grünen und Bürgerbewegungen und die Konflikte innerhalb der Gruppierungen eine Rolle, wenn jetzt einige von Euch einen Platz auf der SPD-Liste favorisieren?

Innerhalb der DDR sind wir im Hinblick auf die Wahlen zu keinem einheitlichen Bündnis gekommen. Ich halte das für verhängnisvoll, weil wir nur damit ein starker Partner der Bundesgrünen gewesen wären, der seinen Einfluß auf die Politik der zukünftigen Fraktion deutlich hätte machen können. Ohne tragfähiges Bündnis in der DDR würden wir als einzelne oder zersplitterte Gruppe in eine Grüne Fraktion kommen. Die Gefahr der Überfremdung ist absehbar. Diese Gefahr sehe ich natürlich auch bei der SPD. Versuche eigenständiger Politik innerhalb der SPD - das zeigt die Geschichte - waren bislang nie von Erfolg gekrönt. Einziges Argument dafür, auf das Angebot der SPD einzugehen, ist die Notwendigkeit, daß eine stattliche Anzahl von PolitikerInnen in diesem gesamtdeutschen Parlament sitzt, die eine Lobby für die Interessen der ehemaligen DDR-Bürger bilden. Ich denke, dieser Gesichtspunkt und weniger die Neigung zu sozialdemokratischen Positionen ist für viele entscheidend, die jetzt überlegen, ob eine Kandidatur auf SPD -Listenplätzen für sie in Frage kommt.

Ist der Zug für eine Liste Grüne/Bündnis 90 in der DDR abgefahren, oder sehen Sie da noch Chancen?

Dazu müßte es in der DDR ein Bündnis 90 geben. Das aber existiert mittlerweile nur noch in der Volkskammer und einigen kommunalen Parlamenten. Der Beschluß des Neuen Forums, die Entscheidung über ein gemeinsames Wahlbündnis den Landesverbänden zu überlassen, war eine ziemlich eindeutige Absage. Sowohl die Grüne Partei als auch das Neue Forum sind nicht wirklich bereit, der ganzen Breite der Bürgerbewegung Rechnung zu tragen. Im Bündnis der Gruppen hätte eine große Chance gelegen, aber im Neuen Forum hat man nicht verstanden, daß das Bündnis 90 in seiner Volkskammerarbeit auch im Bewußtsein der Wähler mittlerweile eine eigenständige Größe darstellt.

Aber der Niedergang der Bürgerbewegung würde doch weiter beschleunigt, wenn Ihr jetzt auf das SPD-Angebot eingeht?

Das wäre ganz sicherlich eine Schwächung der Gruppen. Aber man muß sich natürlich fragen, ob Gruppen, wie sie sich in der DDR unter ganz anderen Bedingungen entwickelt haben, in einem völlig anderen politischen Umfeld so weiter arbeiten können wie bisher. Diese Gruppen waren in der DDR die Opposition schlechthin. In der Bundesrepublik sieht das ganz anders aus. Bürgerbewegungen sind da eher Ein-Punkt -Bewegungen. Ich weiß nicht, ob wir mit dem Anspruch, Antworten auf ein breites Spektrum politischer Probleme zu finden, als Bürgerbewegungen überleben können. Es ja auch denkbar, daß die Bürgerbewegungen zu dem Schluß kommen als solche gar nicht an der Wahl teilzunehmen. Das schließt ja die Kandidatur einiger Leute auf Parteilisten nicht aus.

Könnte für diese Entscheidung nicht ausschlaggebend sein, daß Bürgerbewegungen und Grüne zusammen ohnehin kaum mehr als acht, neun Abgeordnete aus der DDR stellen würden? Davon die Hälfte für die Bürgerbewegungen würde heißen: maximal vier Mandate. Erscheinen auch von daher zehn Listenplätze bei der SPD attraktiver?

Also erst einmal gibt es noch kein konkretes Angebot der SPD für zehn Sitze. In der SPD dürfte das außerordentlich umstritten sein. Gesetzt den Fall, ich bin daran interessiert, möglichst viele von uns sollten in diesem Parlament arbeiten, bleibt mir nichts anderes übrig, als unterschiedliche Möglichkeiten und damit auch das SPD -Angebot zu nutzen.

Spielt bei Eurer Entscheidung auch die Gefahr eine Rolle, die Grünen könnten gesamtdeutsch an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, wenn die profiliertesten DDR -BürgerrechtsvertreterInnen auf SPD-Listenplätzen kandidieren?

Ich sehe diese Gefahr nicht. Ich glaube, die Gelassenheit der Bundesgrünen im Umgang mit den DDR-Listen ist nur so zu interpretieren, daß man meint, Verluste auf dem DDR-Gebiet mit dem Ergebnis aus dem Bundesgebiet abfangen zu können.

Wenn Ihr aber auf das Angebot eingeht, welche Forderungen werdet Ihr der SPD stellen?

Erst einmal muß ein klares Angebot von der SPD kommen. Dann sollte es zu einer gemeinsamen Willensbildung in der Fraktion kommen. Das ist die Voraussetzung, um überhaupt Bedingungen stellen zu können. Diese Konditionen haben natürlich mit der praktischen Politik der SPD-Ost zu tun. Die ist für niemanden von uns überzeugend. Deshalb steht an erster Stelle die Koalitionsfrage. Denn die Fortsetzung der derzeitigen SPD-Politik ist für keinen von uns ein Argument, auf einer SPD-Liste zu kandidieren.

Was motiviert die SPD, Euch das Angebot zu machen?

Ich denke, einige in der SPD versuchen damit ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Es gab ja schon einmal ein Wahlbündnis zu den Volkskammerwahlen, das von der SPD aufgekündigt wurde, und jetzt diktiert die SPD erneut in der Frage das Wahlrechtes die für uns ungünstigsten Bedingungen. Natürlich gibt es bei einigen auch das echte Anliegen, mit uns zusammenzuarbeiten. Ich will da nicht jedem Schlitzohrigkeit unterstellen. Wir haben Kontakt zu vielen, die wir schon aus der Oppositionszeit kennen. Sie empfinden diese Trennung als schmerzlich. Natürlich geht es auch darum, daß die SPD-Ost einfach nicht genügend profilierte Leute hat. Man will sich da ein bißchen auffrischen. Das wäre doch im Wahlkampf ein ungeheures Plus, wenn die sagen könnten: „Guckt mal, jetzt sind'se bei uns.“ Das Intervie

führte Matthias Gei