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Zwischen Belle Alliance und Waterloo

■ Das Kabinett de Maziere wird heute 100 Tage alt / Zumindest der Regierungschef verkauft sich trotz eingeschränktem Handlungsspielraum nicht schlecht / Doch zentrale Positionen der Koalition ließen sich gegen Bonn nicht durchsetzen

Von Matthias Geis

Ihrer eigenen Aufgabenbeschreibung - sich überflüssig machen im Prozess der deutschen Vereinigung - ist die erste demokratisch gewählte Regierung der DDR unter Lothar de Maiziere bereits nach 100 Tagen gefährlich nahe gekommen. So nahe, daß sie kaum sicher sein kann, ob nicht doch noch im Laufe des Herbstes ein Handstreich in der Volkskammer den Beitritt zum Grundgesetz herbeiführt und damit den Prozeß vorzeitig beendet, der spätestens seit Inkrafttreten des ersten Staatsvertrags in vollem Gange ist: die Kompetenzverlagerung in Richtung Bonn, die Übergabe der Exekutivmacht an die Bundesregierung.

Immerhin versprach de Maiziere in seiner Regierungserklärung vom 19. April auch, der Prozeß der Einheit werde „so schnell wie möglich, aber so gut wie nötig“ vollzogen werden. In diesem prekären Spannungsfeld bewegt sich de Maiziere, seit er die Aufgabe des letzten Regierungschefs der DDR übernahm. Obwohl auch Mitglieder der Regierungskoalition unumwunden einräumen, daß der Zeitdruck der Einheitsverhandlungen die Qualität der Ergebnisse von Beginn an beeinträchtigte, hat das öffentliche Ansehen de Maizieres in den letzten Monaten nicht gelitten - im Gegenteil. Der Regierungschef wider Willen verkörpert nach außen noch immer beide Seiten seiner Regierungsmaxime: die Entschlossenheit zur schnellen Einigung und die Sorgfalt bei ihrer Realisierung.

Dieser Eindruck, der sich aus der Perspektive der sozialen und ökonomischen Interessen der DDR-BürgerInnen auch dann nur schwer begründen läßt, wenn die kursierenden Katastrophenszenarien nicht wahr werden, hängt zweifellos eng mit der Person de Maiziere zusammen. Er erweist sich schon nach den ersten hundert Tagen als ideale Besetzung. Denn während er die ausgehandelten Modalitäten der Einigung rechtfertigt, wirkt er zugleich verunsichert, nie ganz identisch mit seiner Rolle - ein Gefühl, das er derzeit wohl mit den meisten seiner Landsleute teilt. Die werden ihm genau deshalb eher abnehmen, daß er sich zumindest redlich bemüht, im ungleichgewichtigen Verhandlungsmarathon mit Bonn das Beste rauszuholen. Das ist ihm - gemessen an den formulierten Ansprüchen - zweifellos nicht gelungen. Im Kernstück der bisherigen Regierungsarbeit, dem Staatsvertrag zur Schaffung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, konnten zentrale Positionen nicht durchgesetzt werden. Die Maxime, es werde nach der Einführung der D-Mark keinem/r BürgerIn der DDR schlechter gehen als vorher, erscheint angesichts des aprupt importierten westlichen Preisniveaus als zumindest vorschnell. Während vor der Einführung der D -Mark noch mit einer Zeitverzögerung bei der Preisanpassung nach oben spekuliert wurde, wirkt es jetzt eher makaber, wenn führende Politiker versprechen müssen, bald könne man auch in der DDR ähnlich günstig wie im Westen einkaufen.

Auch beim Schutz der heimischen Produktion ist die DDR -Regierung mangels Finanzhoheit auf Bonner good will angewiesen. Immerhin darf de Miaziere hier auf das klar definierte Eigeninteresse der Bundesregierung spekulieren, allzu drastische soziale und ökonomische Einbrüche zu verhindern. Daß die DDR-BürgerInnen wohl doch nicht mit dem von Wirtschaftsminister Pohl prognostizierten „Heißen Herbst“ rechnen müssen, liegt weniger an der Solidität der deutsch-deutschen Vereinbarungen als am Dezember-Wahltermin. Weitere Strukturhilfemaßnahmen aus Bonn dürfen als sicher gelten. In dieser Hinsicht kann das Kabinett in der ihm verbleibenden Zeit kaum noch etwas falsch machen. Der „Heiße Herbst“ ist erstmal aufs Frühjahr vertagt. Auch in der Frage des Schutzes von Eigentumsinteressen der DDR-BürgerInnen konnte sich de Maizieres Verhandlungsdelegation nicht durchsetzen. Die Erbpachtregelung für Grund und Boden, mit der die Koalitionsvereinbarung den Erwerb durch Gebietsfremde erst einmal stornieren wollte, wurde angesichts der von Bonn eingeforderten marktwirtschaftlichen Prinzipien rasch zur Makulatur. In der sensiblen Frage enteigneter Grundstücke, Immobilien und Betriebe setzte sich das Bonner Prinzip der „grundsätzlichen Rückgabe“ durch. Wie die vereinbarten Einschränkungen dieses Prinzips juristisch verbindlich umgesetzt werden, ist weiter offen. Immerhin läßt die Tatsache nichts Gutes ahnen, daß die Bonner nicht einmal die Ergebnisse der Bodenreform als endgültig verbindlich anerkennen wollen.

Auch bei der Privatisierung des Volkseigentums läßt sich die ursprüngliche Intention nur sehr vermittelt wiederfinden. Die Erlöse der Treuhandanstalt, die in den nächsten Monaten über die Zukunft von 8.000 Betrieben entscheidet, sollen in erster Linie zur Sanierung des Haushalts und der Industrie eingesetzt werden. Erst dann kommt die Übertragung von Anteilen an die Bevölkerung.

Doch die Bedeutung solcher, für die Zukunft des Landes zentraler Weichenstellungen, scheint derzeit bei den DDR -BürgerInnen nicht recht anzukommen. Obwohl kein Tag ohne Streiks und Demonstrationen von Bauarbeitern, Kulturschaffenden oder Bauern vergeht, wirkt das gesellschaftliche Klima in dem die Regierung agiert merkwürdig entspannt. Das Bewußtsein der baldigen Einheit wirkt, wenn schon nicht mehr euphorisierend, so doch beruhigend. Daß die Bonner die DDR schamlos hängen lassen, können sich die meisten nach dem D-Mark-Coup einfach nicht vorstellen. Das Vertrauen auf Bonn ist das eigentliche Medium, in dem die Regierung de Maiziere ihre begrenzte Handlungsfreiheit nutzen kann, ohne allzusehr in Bedrängnis zu geraten.

Zur Tragik der Übergangsregierung gehört es, daß ausgerechnet der Bereich, in dem man sich noch eigenständige Akzente zutraute, mittlerweile bedeutungslos geworden ist. Die Außenpolitik - ein einziges Fiasko. Das liegt weniger an den formulierten Ansätzen als an der naiven Einbildung, sie ließen sich im Kontrast zu den Bonner Vorstellungen verwirklichen. Am Ende führten die Ostberliner Bedingungen für eine gesamtdeutsche Natomitgliedschaft nur dazu, daß die Regierung der DDR nicht einmal informiert wurde, als Kohl bereits bei seinem Moskaubesuch alles klar machte: Bündniszugehörigkeit, volle Souveränität und gesamtdeutsche Truppenstärke. Die Brücke zu Osteuropa, die Markus Meckel gerne als das Vermächtnis seiner Amtszeit präsentiert hätte, baut Kohl - auf seine Weise.

Die SPD-Minister trifft es hart im Großen Koalitionskabinett. Finanzminister Romberg mußte gegen seine Bedenken den Staatsvertrag unterzeichnen, Markus Meckel müßte schon aus Gründen der Selbstachtung den Rücktritt einreichen. Zur tragischen Rolle der SPD gehört es, daß der jetzt auf seinem außenpolitischen Scherbenhaufen thronende Meckel als eigentlicher Motor bei der sozialdemokratischen Regierungseinbindung fungierte. Innenminister Diestel hingegen, den Meckel seine Partei noch als Koalitionskröte schlucken ließ, gilt mit seiner unideologisch-pragmatischen Amtsführung mittlerweile als karriereverdächtig. Vom Mitgestaltungsanspruch wurde wenig realisiert. Die Hoffnung auf den Wahlbonus als gute Patrioten ist mittlerweile soweit verblaßt, daß diejenigen in der Partei, die sich widerwillig in die Koalition zwingen ließen, jetzt regelmäßig den Koalitionsbruch einfordern.

Der wird ausbleiben. Die Wahlchancen der SPD würden damit nicht steigen, und die Folgen der Großen Regierungskoalition sind nach den entscheidenden Weichenstellungen ohnehin kaum mehr zu korrigieren. Zur Negativbilanz der Koalition, die die SPD mit dem Verzicht auf die Oppositionsrolle mitzuverantworten hat, gehört auch die Reduktion des Parlamentes zum gefügigen Werkzeug der Exekutive. Auch diese kurze, aber nachhaltige Tradition wird im neuen Gesamtstaat nachwirken.

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