: „Die spinnen in der Volkskammer!“
■ Die taz fragte BürgerInnen auf dem Berliner Alexanderplatz nach ihrer Meinung zum Volkskammer-Geschehen
Berlin (taz) - „Gelinde gesagt, ist das 'ne Sauerei, was sich da in der Volkskammer abspielt! Det sind doch unsere gewählten Abgeordneten, und nu‘ machen sie so einen Hickhack um die deutsche Einheit.“ Wer gestern zehn Menschen auf dem Alexanderplatz befragte, wo Obst, Gemüse, Käse, Honig und vieles mehr aus West und Ost an zahllosen Marktständen verkauft wurde, bekam zehn solcher Antworten. Ein vorbeikommender Bauarbeiter meinte nur knapp: „Die spinnen in der Volkskammer!“
Die Nachfrage auf dem Alex ist groß, die Preise human. Irmgard G., Verkäuferin am Eierstand: „Wir haben mit unserem Betrieb ja schon genug Probleme, das ist gar nicht gut, daß die in der Volkskammer sich auch noch streiten.“
Lange noch nicht an das parlamentarische Spiel der Parteienpolitik gewöhnt, reagierten eine Reihe PassantInnen auf die Frage nach dem Sinn des Koalitionsstreits mit grundsätzlicher Ablehnung der Politik überhaupt: „Die sind alle blöde, die da drinne sitzen! Alle mehr oder weniger von der SED von früher eingenommen“, findet Martin K. Er hat gerade eine Tüte Gemüse eingekauft. „Warum kommen'se nicht zueinander? Da wird debattiert, debattiert! Sollen sie sich mal für eins entscheiden und dann ist gut.“ Peter L. hat mehr Verständnis: „Dieser Kleinkrieg ist eigentlich logisch vor den Wahlen, reine Wahlkampftaktik. Ich meine, im Endeffekt wird das sowieso nicht hier entschieden. Die Koalition wird deswegen nicht kaputtgehen, da bin ich mir sicher.“
Noch unbekannt unter gelernten DDR-BürgerInnen ist der Typ des Passanten, der es besser zu können glaubt. Der Westberliner Klaus B., der sich auf dem Alex eindeckte, erklärt: „Ich fände die Position von de Maiziere richtig, wenn er sie anders begründen würde. Ich meine, wenn vier Parteien 4,9 Prozent kriegen, sind 20 Prozent der Wählerstimmen nicht vertreten. De Maiziere müßte argumentieren, daß diese Klausel undemokratisch ist!“ Viele Befragte reagierten abwehrend: „Ich hab‘ so viel zu tun, da hab‘ ich das nicht verfolgt“, oder auch: „Interessiert mich nicht!“ Die Neugier auf öffentlich ausgetragene Politik ist den Leuten bereits vier Monate nach der ersten freien Volkskammerwahl gründlich ausgetrieben worden.
A.Z.
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