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Gesellschaftliche Grundlagenforschung

■ Gespräch mit der Schöneberger Kunstamtsleiterin Katharina Kaiser über dezentrale Kultur in den Zeiten der Wiedervereinigung

taz: In den legendären rot-grünen Koalitionsvereinbarungen nahm die „dezentrale Kultur“ einen wichtigen Stellenwert ein. Ist die Umsetzung vorangekommen?

Katharina Kaiser: Sie hat im Programm einen wichtigen Stellenwert eingenommen. Bis heute gibt es aber von kulturpolitischer Seite keine inhaltliche Aussage darüber, was dezentrale Kulturarbeit denn sei, was sie bewirken soll und was die Politik tun muß, damit sie sich weiterentwickeln kann. Der Begriff wurde eher entleert, als daß er inhaltlich gefüllt worden ist. Von dezentraler Kulturarbeit wird in einer Weise gesprochen, daß Künstler nur noch Sozialarbeit hören und müde abwinken und sich auch nicht mehr an dem Verteilungsstreit um die wenigen Mittel in den Bezirken beteiligen. Ich unterscheide daher immer bewußt zwischen dezentraler Kultur und dezentraler Kulturarbeit. Dabei gehört zur dezentralen Kultur für mich alles, was an lebendiger Kultur da ist. Diese ist notwendigerweise dezentral, weil sie sich dort abspielt, wo die Kulturproduzenten, die Künstler und Kunstvermittler leben und arbeiten. Aufgabe der dezentralen Kulturarbeit hingegen ist, Räume und Öffentlichkeit für die unterschiedlichen Kulturen herzustellen. In diesem Sinne hat dezentrale Kulturarbeit eine kulturpolitische und eine kulturvermittelnde Funktion.

Wird nicht dezentrale Kulturarbeit oft als kulturelle Entwicklungsarbeit in angeblich unterentwickelten Regionen der Stadt verstanden? Nach dem Motto: Man muß dem Neuköllner Proleten beibringen, wie man eine Theaterkarte ersteht und sich dann während der Vorstellung korrekt verhält. Oder aber man versteht darunter den Blockflötenkurs an der Musikschule.

Dies ist ein großes Mißverständnis, das vor allem in der SPD lebendig ist und mit der Tradition der Arbeiterkultur zu tun hat, die immer eine große Achtung vor der Hochkultur hatte. Peter Weiss, der über dieses Verhältnis zur Hochkultur in der Ästhetik des Widerstands geschrieben hat, betont aber die Wechselbeziehung, die ein Selbst -Bewußtsein der Subjekte voraussetzt. Nur in dieser Wechselbeziehung sieht er etwas Emanzipatives. Und nicht in einer Einbahnstraße, wie sie in der Regierungserklärung vom 13.4.1989 formuliert ist, auf der man “... manche gesellschaftliche Gruppen näher an die Kultur heranbringen will“. Letztlich verbirgt sich dahinter ein konservativer Kulturbegriff, der nur das gesellschaftlich Anerkannte anerkennt.

Und wie ist Ihrer Meinung nach das Kunstverständnis bei der Alternativen Liste?

Bei vielen AL-Bezirkspolitikern werden die Bereiche dezentrale Kultur und Hochkultur als zwei völlig getrennte Welten wahrgenommen. Da es keinen verbindlichen Kulturbegriff gibt - außer vielleicht dem abgewandelten SPD -Slogan: „Kultur für alle und von allen“ -, hat sich naturwüchsig in den Bezirken der Begriff „Soziokultur“ als gleichbedeutend mit dezentraler Kultur durchgesetzt. Soziokultur wird dabei nicht selten auf ihre kompensatorische Funktion und den Freizeitwert reduziert und mit Workshops für gestreßte Großstadtseelen verwechselt. Kunst kommt in diesem Denken nicht vor. Bestenfalls Künstlerinitiativen, denen geholfen werden muß; also auch hier wieder ausschließlich der soziale Aspekt. Das Innovative der Kunst, die immer etwas mit geistigen Prozessen und Widersprüchlichkeiten zu tun hat, wird für diesen Bereich nicht reklamiert, man reserviert ihn für die Hochkultur. So kann man unbekümmert an der Alternative „Repräsentationskultur“ und „Kiezkultur“ festhalten. Die dezentralen Kulturen dazwischen geraten nicht ins Blickfeld.

Droht mit den gesellschaftlichen Veränderungen in Berlin den dezentralen Kulturen das Aus?

Berlin war in der jüngeren Vergangenheit ein herausragender Ort, an dem sich viele kulturelle Milieus entwickeln konnten. Es gab ausreichend Räume, die nicht vom Kommerz besetzt waren. Da waren die Brachen, die billigen Mieten in den Hinterhöfen, in den Fabriketagen, nicht nur in Kreuzberg. Durch die Mauereinengung ergab sich die einmalige Situation, daß diese Brachen zwar an der Peripherie, aber gleichzeitig im Zentrum der Stadt lagen.

Kulturen brauchen Raum, Zeit und Geld. Gibt es Bestrebungen, den Künstlern zur Seite zu stehen?

Der Berufsverband bildender Künstler hat dieses Thema sehr schnell aufgegriffen. Die bildenden KünstlerInnen sind als erste bedroht und werden bereits durch verdoppelte Mieten aus ihren billigen Ateliers herausgedrängt. Die nächsten sind die MusikerInnen in den Übungskellern. Im Kulturausschuß des Senats wurde auf dieses Problem lediglich geantwortet: Warum müssen denn so viele Künstler in der Stadt leben, die können doch jetzt aufs Land ziehen. Ich denke, wenn diese widerspenstigen Kulturen nicht mehr mitten in der Stadt eine Lebenschance haben, bedeutet dies unwiederbringlich eine Ausdünnung von Kultur. Und wenn der breiten Strömung des Konsumismus nicht auch emanzipative Elemente der Kultur gegenübergestellt werden, wird das für ein zusammenwucherndes Berlin sehr negative Folgen haben. Wir sehen das augenblicklich am deutlichsten in der Ausgrenzung alles Fremden. Die fremden Menschen, die hier hereinkommen, werden nur noch als Gruppen mit großen Taschen in den Schlangen vor Aldi wahrgenommen und nicht als kulturelle Subjekte.

Welche Konsequenzen könnte es haben, wenn die Kulturproduzenten ins Umland verdrängt würden?

Wie sich das Verhältnis von ländlichen und städtischen Milieus entwickeln wird, kann man noch nicht absehen. Aber an unseren Literaten, die in die Toskana zogen, um da zu produzieren, konnte man die Wirkungen nachvollziehen. Es ist dort eine Kultur entstanden, die sehr viel mit Innerlichkeit und Rückzug auf das Individuum zu tun hatte. In der DDR waren die Literaten mit der Bevölkerung eingeschlossen, und nicht wenige haben dadurch ganz unmittelbar gesellschaftlich wirken können. Die dezentralen Kulturorte, einschließlich der Kirchen, waren der Ausgangspunkt für das, was unsere Medien so leichtzüngig „Revolution“ nennen.

Und wie sieht das dann in der Stadt aus? Wird der Kommerz die Stadt rigider als in der Vergangenheit regieren?

Ja, aber nicht nur in dem konkreten Sinn, daß da, wo Ateliers waren, jetzt High-Tech-Firmen einziehen, sondern auch in dem Sinn, daß der Konsumismus die Wahrnehmungen, Wünsche und Erfahrungen dominiert. Dabei werden die sozialen Probleme zweifellos zunehmen. Schon jetzt wird in den Bezirken und anderenorts das Soziale gegen das Kulturelle ausgespielt. Es wird gesagt: Wir brauchen das Geld und müssen die Kulturetats kürzen, weil in den Schulen und Kindergärten die Probleme so groß sind und in den Jugendzentren die Konflikte zunehmen. Man reagiert nur noch und begreift nicht, daß die dezentralen kulturellen Aktivitäten eine Chance wären, eigenständige kulturelle Identitäten zu entwickeln. Ich will den Spieß nicht umdrehen und das Kulturelle gegen das Soziale ausspielen. Es ist banal, aber man muß es immer wieder sagen: Kunst ist nicht nur sozial, wenn sie unmittelbar nützlich ist, Kunst und Kultur sind auch immer so etwas wie gesellschaftliche Grundlagenforschung. Ähnlich der Grundlagenforschung in der Industrie entsteht Nützliches nur auf der Grundlage von Experimenten. Ohne eine lebendige Kunst und Kultur kann eine humane Gesellschaft nicht existieren. Sie ist der Ort, an dem sich die subjektiven, emanzipatorischen und utopischen Wünsche und Gefühle öffentlich artikulieren können und kommunizierbar werden. Kunst und Kultur als das nicht Nützliche und nicht Notwendige sind gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Neuorientierungen notwendig.

Interview: Eberhard Seidel-Piele

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