: In der Ukraine säen, in Kanada ernten
■ Bodenerosion, Versalzung und Verseuchung des Grundwassers bedrohen die Existenz der Landwirtschaft
Wer hat sie noch vor Augen, die Front der Mähdrescher in Dowschenkos heroischen Filmen, wie sie in Schlachtordnung gegen die Getreidefelder vorrücken und in Rekordzeit reiche Ernte einbringen? Dieses Jahr soll die 237-Millionen-Tonnen -Ernte von 1978 in der Sowjetunion überboten werden - aber kein Filmemacher oder Gebrauchslyriker preist die Ernteschlacht. Im Jahr fünf der Perestroika heißt es in der Nachrichtensendung des Fernsehen lapidar: „Offensichtlich nicht überzeugt von der Effektivität der kollektiven wie der staatlichen Agrarbetriebe hat die Regierung die Bush -Administration um Kredit zum Ankauf amerikanischen Getreides gebeten.“ In Zeiten der Mißernte wäre eine solche Meldung nicht erwähnenswert gewesen. Hat doch die jahrelange Praxis des Getreideaufkaufs in Amerika das gefügelte Wort geboren: „Die Kolchosen säen in der Ukraine und ernten in Kanada.“ Aber Kauf auf Kredit im Zeichen der Rekordernte?
Wie in anderen Kernbereichen der Ökonomie auch hat Gorbatschow in der Landwirtschaft die Reform zu spät und allzu halbherzig angepackt. Die zentrale Statistikbehörde Goskomstat meldete dieser Tage, daß es zwar jetzt 29.000 private Höfe gäbe, die aber nur 121.000 Hektar Land bewirtschafteten - im Vergleich zu den 207 Millionen Hektar, die weiter von Kolchosen und Sowchosen bestellt werden. Wer will es den Arbeitern auf den Staatsgütern oder den Genossenschaftsbauern auch verdenken, daß sie gesicherte wenn auch niedrige - Löhne und eine geregelte Arbeitszeit einer Selbstständigkeit vorziehen, die nicht nur voller staatlich verordneter Tücken ist, sondern darüber hinaus Neid und Mißgunst hervorruft. Auch das lang gehegte Projekt, die eigentliche Erntearbeit auf eigene Rechnung operierenden Kollektiven zu übertragen, kommt nicht vom Fleck. Die Konsequenz: Von 700.000 Mähdreschern sind 100.000 nicht einsatzfähig. Es fehlt außerdem an Arbeitsplätzen - Folge der anhaltenden Flucht vor dem „Idiotismus des Landlebens“ (Friedrich Engels). Ist die Ernte trotz dieser Fährnisse eingebracht, werden mangelnde Lagermöglichkeiten und Transportkapazitäten für ihre weitere Dezimierung sorgen.
Aber nicht diese chronischen Leiden der sowjetischen Landwirtschaft versetzen jetzt die Experten - und mit gebührendem Abstand die Politiker - in Schrecken. Das staatliche sowjetische Komitee für Naturschutz Goskompriroda hat letztes Jahr festgestellt, daß 13Prozent der gesamten sowjetischen Anbaufläche versalzen und weitere 4Prozent versumpft sind. In den zehn Jahren von 1975 bis 1985 hat sich die versalzene Fläche verdoppelt. Fast die Hälfte des fruchtbaren Bodens leidet unter Erosion, bei einem Fünftel ist der Zustand kritisch. In einigen Regionen des Schwarzerdegürtels, der fruchtbarsten Fläche der Sowjetunion, ist der Humus um ein Drittel vermindert. Die Umwandlung früherer Steppen in Anbaugebiete hat die Erosion noch beschleunigt. Die Bewässerungssysteme führten zur Versalzung und zur Kontamination des Grundwassers. Unter Chrustschows persönlicher Anleitung wurden die Traktoren ursprünglich Raupenfahrzeuge - bereift. Sie pressen jetzt dank ihres übermässigen Gewichts den Boden zusammen und verhindern so jedes Wachstum. Da hilft kein Dünger mehr eine vierjährige Erholungspause ist nötig.
Ausgerechnet in fruchtbaren Gebieten wie dem Donbass oder dem südlichen Ural fällt millionentonnenweise der Schwefeldioxyd der benachbarten Grundstoffindustrie auf die Felder. Staatliche Prämien für den Verzicht auf Fertilizer und Pestizide sind unter diesen Bedingungen zum Fenster herausgeworfen. Im Vergleich etwa zu den EG-Ländern ist der Einsatz von Düngemitteln per Hektar eher gering. Man muß aber bedenken, daß in weiten Regionen der Sowjetunion so gut wie keine Düngemittel zum Einsatz kommen, dafür wird in der Ukraine und Südrußland um so mehr geklotzt. Gosplan schätzt, daß auf die Sowjetunion bezogen ein Drittel aller Düngemittel ihren eigentlichen Zweck verfehlen. Sie gehen beim Transport verloren (so daß die 'Prawda‘ schon ironisch vorschlug, den Getreideanbau entlang der Zugsttrecken zu konzentrieren) oder werden aus dem Boden gewaschen und gelangen ins Grundwasser. Bezogen auf Kasachstan stellte eine landwirtschaftliche Fachzeitschrift Ende letzten Jahres fest, „daß die Ernte heute vollständig von mineralischen Düngemitteln abhängt“.
Besonders furchterregende Folgen hat der Einsatz von Pestiziden. Hauptsächlich beim Reis und Baumwollanbau im Gebrauch gelangen sie über die gefluteten Felder ins Grundwasser und von dort in die Flüsse. 1987 ist ein Drittel aller Fische des Wolga-Bassins der Giftattacke erlegen. Es gehört zu den ersten, zarten Folgen der Perestroika auf dem Land, daß in den letzten Jahren immerhin 4Prozent der Anbaufläche dem Pestizidenangriff entzogen worden sind.
Christian Semler
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