Ludwig Erhard in Dresden

■ Kirchenvertreter gegen bayerische Bierzelte und Ludwig Erhards Thesen zur Marktwirtschaft / Lebenshilfe für den christlichen Käufer

„Schämt Euch!“ So rief dieser Tage Pfarrer Dr. Michael Müller aus der Dresdener Kreuzkirche. Dieses „Schämt Euch!“ dürfte dem Dresdener noch aus den Oktobertagen des vergangenen Jahres bekannt sein. „So haben wir gerufen, als wir im Herbst vergangenen Jahres am Polizeipräsidium vorbeizogen.“ Doch diesmal galt es anderen: Den Verantwortlichen für den Aufbau eines bayerischen Bierzeltes auf dem Dresdener Altmarkt und den Dresdnern, die „von bayerischem Bier benebelt und einer Jodlerkapelle mit x Dezibel animiert, das „Prosit der Gemütlichkeit“ und „Deutschland, Deutschland“ grölend, das Zentrum der Kulturstadt Dresden zu einer Vorstadtbierkneipe machten“.

Mit solchen Meinungsäußerungen macht man sich nicht nur Freunde, auch unter jenen nicht, die der Kirche wohlgesonnen sind. Ob denn der Kreuzkirche, so wird Pfarrer Müller nun gefragt, nicht gegenwärtig sei, daß hier die Befreiten feierten?

Dresden, die Heimstatt dieser Befreiten, macht einen müden Eindruck. Wenig hat sich im letzten Jahr verändert. Baugerüste allenthalten, schlechte Straßen, Häuser verfallen. Dafür findet sich zwischen Hauptbahnhof und Zwinger eine Teststrecke der Marktwirtschaft: Einheimische „Hamburger“ lassen sich nur schwer verkaufen, wenn nebenan ein Wanderwagen von 'Burger King‘ Halt macht...

In der Prager Straße werben Restaurants mit ihren billigsten Gerichten. Ein Blick durch Fensterscheiben enthüllt: Die Kellner langweilen sich. Wer will schon sechs bis sieben Mark für einen halben Liter Bier bezahlen? Vor dem Centrum-Warenhaus wirbt ein Westler für die Vorteile eines Staubmagneten. Die Schaufensterauslagen eines Elektronik-Geschäfts präsentieren die gestochenen Farben westlicher Farbfernseher. Ein Mädchen sagt zu ihrem Vater: „Nicht, wir haben zu Hause auch RTL.“ Dresden in den ersten Wochen nach der Währungsunion - das sind vor allem überhöhte, zum Teil dreifache Preise für Lebensmittel in den Kaufhallen, das ist die Zeit, in der sich Produzenten, Handel und Großhandel in gegenseitigen Vorwürfen aufreiben.

Vor dem Kulturpalast werden Kartoffeln, Käse und Fleischbüchsen aus DDR-Produktion zu Niedrigstpreisen verkauft. Einige kaufen hier schon gezielt ein, sind dankbar für 2,5 Kilo Kartoffeln für 2 Mark, die man andernorts in Dresden auch für fast den doppelten Preis bekommen kann. Doch viele Passanten wirken unschlüssig, gehen vorbei, bleiben stehen und überlegen, gehen dann doch weiter. Der Raum, in dem man sich sicher fühlte, scheint kleiner geworden zu sein. Für wen, um wen wird mit den bunten Verpackungen denn geworben?

Wirtschaftsexperten sprechen von Anfangsschwierigkeiten der Sozialen Marktwirtschaft und die Kommentatorin der Dresdener CDU-Zeitung 'Die Union‘ warnte davor, nun vielleicht sogar Ludwig Erhard auf die Anklagebank zu setzen. Was es mit dem „Begründer der bundesdeutschen Marktwirtschaft“ auf sich hat, darüber konnten sich die Dresdener 10 Tage lang informieren. „Wohlstand für alle“ hieß die von der Ludwig -Erhard-Stiftung initiierte Wanderausstellung, die im Lichthof des Dresdener Rathauses zu besichtigen war. Unsicherheiten mit dem Begriff Soziale Marktwirtschaft wollte man mit dieser Ausstellung ausräumen, so der Stiftungsvorsitzende Dr. Hohmann.

Einige Tausend nutzten die Gelegenheit zu erfahren, warum Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und Konsumfreihiet zusammengehören, welche Rolle dem Staat in der Sozialen Marktwirtschaft zukommt, weshalb Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerb einander ergänzen. Daß er Schwierigkeiten mit der Sozialen Marktwirtschaft hat, macht Superintendent Christof Ziemer in seinen Predigten in der Kreuzkirche deutlich.

Über die erste Begegnung mit Erhards Buch „Wohlstand für alle“ berichtet der Superintendent folgendermaßen: „Ich gestehe, als ich das vor wenigen Wochen las, dachte ich: Das ist es also, das neue realistische Bild vom Menschen, das wir für unser altes eintauschen. Das anthropologische Geheimnis der sozialen Marktwirtschaft ist der Mensch als Konsument.“ Doch was ist, fragt Ziemer, wenn ich nicht so vermarktet werden will? Und Erhards These vom „demokratischen Grundrecht der Konsumfreiheit“ stellt er eine andere entgegen: „Niemand soll seinen Wohlstand vermehren, solange andere nicht einmal ihre Grundbedürfnisse erfüllen können.“

Natürlich weiß der Kirchenmann, daß damit keine Politik zu machen ist, zumal zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Doch die Kirche müsse einen solchen Satz aussprechen, auch wenn damit kurzfristige Erfolge nicht zu erreichen seien. Um ganz unmittelbare Lebenshilfe geht es dagegen Ziemer in seinen „Zehn Regeln für den christlichen Käufer“, die er am 2. Juli 1990 verfaßte und in der Kreuzkirche aushängen. Demnach soll der christliche Käufer Waren aus dem eigenen Land kaufen, nach umweltgerechten Angeboten verlangen, überhaupt mit Verstand soll er kaufen - so fordert Superintendent Ziemer in Regel 3, 4 und 6. Doch wie lange können solche Regeln von jemandem eingehalten werden, der tagtäglich mit Büchsenbier, Einwegverpackungen, Sonderangeboten weichgekocht wird?

„Dresden - Hauptstadt Sachsens“ prangt es auf der Heckscheibe eines Autos mit Dresdener Nummer. Viele kutschieren stolz ihre neu erworbenen Opels, Renaults und BMWs durch die Straßen, hupen sich gegenseitig zu, während sich Trabifahrer vorbeischleichen. In der Presse diskutiert man die Vorteile, die ein Freistaat Sachsen bieten würde. Auch ein Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten wird schon genannt: Klaus Reichenbach (CDU), zur Zeit Minister im Amt des Ministerpräsidenten. Der Dezernent für Stadtentwicklung, Ingolf Roßberg, kündigte für 1992 einen Bauboom für Dresden an, wobei das traditionelle Flair der Stadt erhalten bleiben soll. Also geht es aufwärts, ist Optimismus angesagt?

Zu Dresden und seiner Perspektive drängen sich Fragen auf: Was ist die Ursache für die mangelnde Investitionsbereitschaft westlicher Firmen? Wie steht es mit der Überlebensfähigkeit Dresdener Betriebe? Lohnt es sich wirklich, selbständig zu werden, angesichts der Menge von BRD-Waren, die die DDR überschwemmt? Dresden ist dabei nur ein typisches Beispiel einer Stadt in einem Noch-Staat, in dem der Wettbewerb versucht wird. „Weg mit den Altlasten! Her mit dem Markt und dem freien Wettbewerb.“ So reden die Verantwortlichen, für die schon längst entschieden ist, daß Erhard über Marx gesiegt hat.

Michael Wendt